Wie gesagt, bin ich mit nur zwei Wagen nach Deutschland gekommen und ließ mich in einer Stadt absetzen, in der ich traditionell eine Freundin entweder als erstes auf meiner Reise nach Deutschland oder als letztes besucht hatte. Bis ich bei ihr ankam, war es schon halb zwölf und da sie auf mein einmaliges Klingeln nicht öffnete, fuhr ich zurück zum Bahnhof. Dort sprach mich ein junger sympathischer Typ an:
„Kann ich Dir helfen?“
„Vielleicht, ich suche einen Schlafplatz. Ich bin gerade angekommen.“
„Ich kenne einen Platz, da kann man immer irgendwo schlafen, wenn du Platte machen willst. Komm, ich fahre mit Dir dort hin. Mit der Nachtlinie. Ich zahle Dir das Ticket. Ich habe da auch schon ab und an geschlafen, wenn ich hier in der Stadt war. Ich wohne nämlich in einem kleinen Dorf außerhalb und heute soll es dort in der Nähe auch einen Schlafplatz für mich geben bei einem Kumpel.“
Wir setzten uns in die letzte Reihe des Nachtbusses. Ich erzählte ihm, wie ich lebe.
„Du erinnerst mich an meine Mutter. Die war auch so drauf wie Du. Sie hat sich am Ende noch trampend bis Frankreich durchgeschlagen. In Südfrankreich ist sie in einen Fluss gegangen, um sich zu waschen – und dabei ertrunken… Sie war zweiundvierzig Jahre alt. Ich wurde von ihr weggenommen, da war ich acht Jahre alt. Ich kam in eine erzkatholische Pflegefamilie mit fünf Kindern. Aber das war o.k. Ich wohne auch jetzt wieder bei ihnen und mache eine Ausbildung. Da sind geordnete Verhältnisse.“
Ich dachte mir schon, dass er mit mir in genau jenes Viertel fahren würde, in dem ich auch schon im Gästewagen einer Wagenburg übernachtet hatte und so war es dann auch. Er führte mich erstmal in einen der Keller.
„Hier habe ich auch schon geschlafen, da sagt keiner was.“
Es ging jedoch schon nach kürzester Zeit eine der Türen direkt neben uns auf und der Anwohner meinte:
„Eine Nacht ist o.k., aber nicht länger. Wir hatten nämlich schon Mal einen Fall von einem, der im Keller geschlafen hat und am Morgen war er tot. Da haben wir keine Lust drauf.“
Wir gingen uns dann weiter umschauen, mein Begleiter zeigte mir weitere Toiletten und Duschen, die ich noch nicht kannte. Draussen trafen wir einen ganzen Pulk Männer, die zu Bier und Wein um ein Feuer herumsaßen. Wir setzten uns dazu und ich kam mit dem Typ ins Gespräch, den wir gerade im Keller getroffen hatten. Er war auch schon diverse Male auf dem Jakobsweg gewesen, also ein erfahrener Jakobspilger.
„Dieses Jahr bin ich die Strecke von Görlitz aus gegangen. Das ist an der Grenze zu Polen. Echt ein schöner Weg. Den kann ich dir empfehlen.“
Trotz der Sympathien aufgrund des Jakobspilgerns lud er mich nicht etwa in seinen Keller oder sonstwo hin zum Übernachten ein. Im Gegenteil. Er klärte mich auf:
„Die Gästewagen, die früher zur Verfügung standen, sind jetzt allesamt belegt durch die Leute von der Wagenburg, die sie im Frühjahr geräumt haben. Alle ihre Wägen wurden beschlagnahmt und um sie wiederzuhaben, müssen die Leute eine teure Auslöse zahlen. Es war so, dass ihnen ein Platz von der Stadt angeboten wurde, aber er war für sie zu klein und so haben sie ihn abgelehnt. Sie wollten alle zusammenbleiben. Früher, da haben sie mal hier im Viertel gestanden. Da wo jetzt ein Hotel hingebaut wurde. Also, wenn du hier übernachten willst, dann ist ein Keller die beste Option.“
Irgendwie war es mir unangenehm, alleine als Frau nur unter Männern und das noch mitten in der Nacht. So machte ich irgendwann klammheimlich die Flatter, sogar ohne mich von dem netten Begleiter zu verabschieden, der mich hergebracht hatte und der von seinem Wesen her auch gut mein eigener Sohn hätte sein können. Obwohl ich das heimliche Gehen doch bereut hatte. Es war einfach nicht nett von mir, nachdem er so lieb war, mich hierher zu führen. Die Geschichte seiner Mutter hatt mich zu Tränen gerührt.
Eigentlich wollte er am nächsten Tag in der Küche der Wagenburgler vorbeischauen, aber ich habe ihn leider nicht mehr getroffen. Dafür war gerade eine Frau auf der Durchreise in den Süden da. Ich gab ihr gleich eine ganze Reihe von Tips, was sie in Frankreich besuchen könnte. Hippieland natürlich. Und ich traf auch Leute von früher, die mich damals eingeladen hatten, im Gästewagen zu übernachten.
„Es sind nur noch zwei von damals übriggeblieben, die hier in LKWs leben. Die anderen sind alle weg. Aber dafür sind jetzt die Leute von der Wagenburg da, die sie geräumt haben. So ist es eng hier geworden“, erläuterte mir eine Frau, die sich noch an mich erinnerte. Die nette burschikose Frau, die mich das letzte Mal zum Essen eingeladen hatte, als ich damals mir nichts, dir nichts vorbeilief, war weg. Nur der ebenfalls äußerst freundliche Schrauber in seinem uralten Feuerwehrwagen war auch noch da. Er gab mir überhaupt den Tip, doch hier im Keller vor der Kinderkrippe zu schlafen.
„Da hat eine Frau den ganzen letzten Winter übernachtet. Die war ganz unauffällig. Am Abend kam sie und am Morgen war sie wieder weg. Die Kinderkrippe ist ja nur drei Mal die Woche geöffnet.“
Ich schaute mir die Sache an und es war echt schön eingerichtet und sauber – mit Teppichen, Bänken und einer Matratze, die zur allgemeinen Benutzung zur Verfügung stand. Wunderbar. Ich richtete mich dort für die Nacht ein, konnte jedoch aufgrund eines fehlenden Fensters nicht wirklich schlafen. Ohne Kontakt zur Außenwelt war mir das Schlafen schon immer schwer gefallen.
Am nächsten Tag fuhr ich dann zu meiner letzten in dieser Stadt übrig gebliebenen Freundin. Ich klingelte und lief die Treppe hinauf. Ein junger Mann schaute mir vor ihrer Tür entgegen. Ich dachte schon, er sei ein Haussitter, aber weit gefehlt.
„Ich bin der Nachbar. Ich habe das Klingeln gehört. Ihre Bekannte ist vor sechs Wochen gestorben.“
Ich war fassungslos. Ich fragte, ob ich mich bei ihm setzen dürfte und er lud mich zu einem Tee und Spaghetti ein. Er kannte meine Freundin nicht viel, gab mir aber bedeutsame weiterführende Informationen.
„Die Nachbarin gegenüber hat sich sehr um sie gekümmert. Ihr zu Essen gebracht, als sie sich nicht mehr versorgen konnte. Und es gab noch eine andere Nachbarin in der Nähe, die sich ebenfalls viel um sie gesorgt hat.“
„Normal habe ich bei ihr übernachtet, wenn ich hier war.“
„Sie können zur Not hier übernachten, aber ich habe eine Freundin, die noch arbeitet und später zurückkommt. Ich weiss nicht, ob ihr das so recht ist. Aber fragen Sie mal die Nachbarin gegenüber, wenn sie noch zu ihr gehen. Ich weiss, dass sie auch schon andere Leute beherbergt hat.“
So ging ich und klingelte bei der Nachbarin gegenüber. Sie war da und lud mich zu sich ein. Nicht nur für einen Tee, nein, ich durfte gleich ganz dableiben.
„Ich habe hier das Zimmer von meinem Sohn, der ausgezogen ist. Das habe ich ab und an vermietet, aber im Moment nicht. Ich habe nämlich einen afrikanischen Freund, der auswärts arbeitet und er kommt nicht, wenn jemand da ist. So können Sie gerne hierbleiben unter der Bedingung, dass wenn er anruft und sagt, dass er kommt, Sie dann innerhalb einer halben Stunde gehen.“
„Das ist o.k. für mich.“
In der Tat war ich glücklich. Sowieso hatte ich das dringende Bedürfnis, mit Menschen zu sprechen, die mit meiner Freundin die letzte Zeit vor ihrem Tod noch Kontakt hatten.
„Ich habe sie jetzt zwei Jahre nicht mehr gesehen, weil ich das letzte Mal, als ich in Deutschland war, nicht hier Station gemacht habe. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich bestimmt früher gekommen.“
„Ja, wenn mehr Leute dagewesen wären, um ihr zu helfen, das wäre gut gewesen. Aber auf der anderen Seite sah sie am Ende schon schlimm aus. Sogar ich habe es manchmal nicht mehr ausgehalten und habe jemand anderen gebeten, ihr das Essen zu bringen, das ich gemacht hatte. Ich weiss nicht, was sie hatte. Sie hat darüber nie gesprochen. Ich weiss nur, dass sie in der Tumorbiologie staionär interniert war. Sie hatte sich immer geweigert, zu einem Arzt zu gehen. Ich weiss nicht einmal, ob sie eine Krankenversicherung hatte. Sie hatte ja nie Geld.“
„Ich weiss, das war ihr Problem.“
„Als sie dann immer mehr abbaute, hat eine andere Nachbarin ihr einen guten Arzt besorgt, zu dem sie Vertrauen hatte. Der einzige, zu dem sie Vertrauen hatte. Er kam immer mit dem Fahrrad hierher gefahren. Er fährt in der ganzen Stadt mit dem Fahrrad zu seinen Patienten. Er ist rührend. Er hat sie bis zu Ende betreut. Ich kann Ihnen seine Telefonnummer geben. Er hat noch den Schlüssel zur Wohnung.“
„Das trifft sich ja gut. Ich hatte nämlich ein paar Sachen bei ihr gelassen. Wäre schön, wenn ich die an mich nehmen könnte.“
„Es war noch jemand sehr eng mit ihr befreundet, der auch schon hier gewohnt hat. Er lebt wohl ähnlich sie Sie. Er ist nirgends fest. Im Sommer schläft er draußen in der Natur. Er konnte hier nicht gut schlafen. Deshalb hat er sich dann etwas anderes gesucht.“
„Wäre schön, wenn ich mich mit ihm unterhalten könnte. Ich glaube, vielleicht habe ich ihn bei ihr schon einmal gesehen. Ich erinnere mich nämlich, dass irgendwann mal ein Mann in meinem Alter bei ihr war, als ich zu ihr kam.“
Sie gab mir beide Telefonnummern und am nächsten Tag rief ich beide an, um mich mit ihnen zu verabreden.
Der Arzt kam, als er Zeit hatte vorbei und wir schauten uns gemeinsam in der Wohnung um. Ich öffnete den Kühlschrank, der irgendwann vor längerer Zeit ausgeschaltet worden war und aus dem mir ein ekliger Geruch verdorbener Lebensmittel entgegen strömte. Ich entsorgte alles in einem großen Müllbeutel.
„Es waren zwar schon Mal Leute da, aber keiner hat daran gedacht, den Kühlschrank auszuräumen“, ließ mich der liebe Arzt wissen.
„Kein Problem. Ich mache grundsätzlich die Dinge, die sonst keiner macht oder die keiner machen will. Das ist ganz normal.“
Dann gossen wir noch die Blumen und er suchte sich Bücher heraus, die ihm gefielen, während ich umsonst nach eine blauen Tasche suchte, die ich mal bei ihr gelassen hatte. Sie war jedoch unauffindbar.
„Die Leute haben schon einiges mitgenommen, vor allem Bücher. Einer hat die ganzen anthroposophischen Bücher mitgenommen“, klärte er mich auf. „Wir treffen uns alle nochmal, die mit ihr bekannt oder befreundet waren am Ende des Monats. Wir gehen zusammen auf den Friedhof und dann in einem Lokal in der Nähe was trinken. Da können Sie ja auch hinkommen.“
„Wenn ich noch da bin“.
Ursprünglich hatte ich nicht vor, länger hier in der Stadt zu bleiben.
„Sie hatte eine Baumbestattung, was man ja nicht Grab nennt. Es ist ganz in der Nähe des hinteren Ausgangs am Hauptfriedhof, der nicht weit entfernt von hier ist. Das finden Sie schon.“
Nach einer gewissen Zeit hielt ich es nicht mehr in der Wohnung aus. Ich erinnerte mich daran, dass ich das letzte Mal, als ich bei ihr war, unglaublich starke Kopfschmerzen bekommen hatte und deshalb auch vorzeitig gehen musste. Und jetzt erfuhr ich, dass sie einen Gehirntumor hatte, aber mit niemandem darüber reden wollte.
„Sie hat sich lange geweigert, zu einem Arzt zu gehen und als sie zu mir kam, war es zu spät. Ich hatte sie in die Klinik eingewiesen, um sie untersuchen zu lassen, aber da waren schon Metastasen im ganzen Körper und die Ärzte wollten und konnten nichts mehr tun. Ich bin jeden Tag zu ihr gefahren. Sie konnte nichts mehr Essen und nichts mehr Trinken. Ich habe gesehen, dass sie Durst hatte und habe zu den Ärzten gesagt:
‚Geben sie ihr Wasser. Sie hat Durst‘.
Den vorletzten Tag haben sie ihr noch Wasser gegeben, aber am nächsten Tag kam ich wieder und sie hatte wieder Durst. Ich gab den Ärzten wieder Bescheid.
Da sagte der Arzt zu mir:
‚Wenn die Seele gehen will, dann muss man sie lassen.‘
Ich weiß aber, sie wollte nicht sterben. Sie hatte Hoffnung bis zum Schluss. Noch am letzten Tag. Sie glaubte nicht daran, dass sie sterben muss. Und dann haben sie ihr kein Wasser mehr gegeben – im Grunde ist sie verdurstet.“
Seine Erzählung machte mich betroffen. Im Krankenhaus verdurstet. Erst kürzlich las ich im Internet, dass es heute Usus ist, in Krankenhäusern unheilbare, dem Tod geweihte Patienten verdursten zu lassen. Aber ohne fremde Hilfe wäre sie eh gestorben, von daher. Besser als Todkranke noch ewig lange künstlich am Leben zu erhalten, finde ich, aber das sind alles Gewissensfragen…