Ich schaffte es uebrigens tatsaechlich, am Montag am Vagabundencafé anzukommen, kurz nachdem es schloss. Die Verantwortlichen waren da und riefen fuer mich bei der Krankenversicherung an, um mich am Nachmittag zur Abholung der Karte anzukuendigen.
„Es ist o.k., du kannst vorbeigehen. Ich weiss nicht warum, aber aus irgendeinem Grund schicken sie einem die Karte nicht zu. Da bin ich aber froh, dass das geklappt hat. Da brauchst du nicht mehr ellenweit zu fahren, um kostenlos zum Arzt zu gehen.“
„Ja, dank deiner Hilfe hat es geklappt. Ich habe ja mehrmals versucht, die Versicherung zu verlaengern wo ich vorher war, aber da hat es nicht geklappt. Erst hier und jetzt, nach einem Jahr Pause, habe ich sie wiederbekommen. Aber so habe ich die Erfahrung gemacht wie es ist, keine Krankenversicherung zu haben. Es ist o.k., aber mit ist es doch besser. Ich danke dir.“
Ich hatte mir Raphaels Bus geliehen, um das alles an einem Tag zu erledigen und fuhr in die mittelalterliche Stadt. Es war herrliches Wetter und so schlenderte ich am Fluss entlang bis zur Krankenversicherung.
„Ich moechte Frau Soundso sprechen“, bedeutete ich am Empfang.
„Das geht nicht. Oder haben Sie einen Termin?“
„Habe ich. Sie weiss, dass ich komme.“
Die Empfangsdame griff nach dem Telefonhoerer und wenig spaeter drueckte mir die fuer meinen Fall Zustaendige eine Karte in die Hand.
„Wenn Sie mal ins Krankenhaus muessen oder zum Arzt, zeigen Sie einfach diese Karte vor. Sie brauchen nichts zu bezahlen. Wenn ein Arzt trotzdem etwas will, gehen Sie zu einem anderen.“
„Und wenn ich mal ins Ausland reise?“
„Sie ist nur auf franzoesischem Terrain gueltig.“
„O.K., danke.“
Die Karte enthielt ein Passfoto, Name und ein paar persoenliche Daten, aber keinen Mikrochip. Das war schon etwas besonderes. Besonders war auch, dass es sie ueberhaupt noch gab, denn die Verantwortliche vom Vagabundencafe meinte damals, als sie sich den Antrag stellte: „Seit drei Wochen sprechen sie im Radio darueber, dass sie diese Hilfe fuer Auslaender, die in irregulaeren Verhaeltnissen in Frankreich leben, abschaffen wollen.“
Ich fuhr dann das erste Mal richtig in die Kommerzzone. Vorher war ich nur mal kurz mit jemandem, mit dem ich getrampt bin, dort gewesen. In einem grosseren Bioladen stoeberte ich die ganzen Gesundheitsbuecher durch, bis mir eine Verkaeuferin einen Schemel anbot, um mich hinzusetzen. Schliesslich suchte ich den Sport- und Ausruesterladen, in dem ich mir ein Reparaturkit fuer meine kaputte aufblasbare Isomatte erstand. Es war mittlerweile Ladenschluss und fuer mich konnte es losgehen. Lange Zeit schon wollte ich die Gegend mal bei Nacht erkunden. Auf meiner Fahrt hatte ich drei Supermaerkte entdeckt und diese steuerte ich nun an. Bei zweien war nichts zu holen, aber beim dritten umso mehr: eine riesige Tuete voll mit Camemberts, Joghurts und anderen Leckereien. Die Fahrt war nicht umsonst gewesen.
Auf dem Weg zurueck holte ich noch Quellwasser von einem Brunnen und traf dabei einen Freund von Raphael, der vorbeikam.
„Ah, wie geht`s Raphael?“ empfing er mich.
„Er sitzt gerade Tag und Nacht am Computer. Wird Zeit, dass du mal wieder vorbeischaust und ihn unterbrichst. Und wie geht`s dir?“
„Ach na ja. Ich muss aus meiner Wohnung raus. Ich kann sie nicht mehr bezahlen. Meine Kinder sind wieder zu ihrer Mutter gezogen und da fehlt mir das Geld. Ich weiss auch nicht, was ich tun soll. Meiner Freundin geht es gut in Amerika. Sie hat ihr Haus wiederbekommen, hat ein Auto und einen Job. Hier haben sie sie alle fuer verrueckt gehalten, aber dort ist sie anerkannt. Sie hat mich eingeladen, zu ihr zu kommen. Sie wartet auf mich.“
„Dann nix wie hin.“
„Ich kann nicht so einfach weg. Ich habe eine Strafe zu zahlen, ohne komme ich nicht aus dem Land heraus.“
„Dann bist du in einem Gefaengnis von circa tausend Kilometer Laenge und tausend Kilometer Breite.“
„Na ja, vielleicht fliege ich von Spanien oder Belgien aus. Mal sehen. Ich weiss noch nicht. Ich weiss im Moment gar nichts.“
Anschliessend machte ich noch am Bioladen Halt und machte den groessten Fund an Brot seit Langem.
Eines Abends ging ich zu Lulu.
„Hey, Michelle! Komm rein und setz dich. Was fuehrt dich zu mir?“
„Ich habe ein paar Klamotten abzugeben und da du Sachen auf dem Flohmarkt verkaufst, habe ich an dich gedacht.“
„Ich habe selbst zu viel und gebe es schon ab. Du kannst es auf dem Markt in einen Karton legen und draufschreiben ‚abzugeben’ oder ‚gratis ’. Das tun die Leute immer wieder mal. Das funktioniert. Magst du was trinken?“
„Ja, ein Glas Wasser.“
„Ich habe Quellwasser. Man soll ja nur noch Quellwasser trinken. Man kann das Wasser auch mit Steinen reinigen. Auf dem Markt gibt es ganz billig solche Steine. Die Frau an dem Stand sagte mir auch, ich solle nur noch Himalaya-Kristallsalz verwenden. Das ist gar nicht so teuer. Das normale Kochsalz ist Gift. Vielleicht hilft mir das gesundheitlich. Ich bin ja schon seit Laengerem nicht richtig auf dem Damm und kein Arzt hat bisher herausgefunden, was ich wirklich habe.
Und mein Auto ist auch kaputt. Es springt nicht immer an. So kann ich manchmal einfach nicht damit fahren. Und du?“
„Ich bin jetzt auf dem Campingplatz. Bei Heidi. Da habe ich Strom und kann heizen. Sie ist weggefahren und ich bewache ihn.“
„Dann bist du jetzt in Ruhe dort. Auf dem Campingplatz und bei Raphael, was fuer ein Luxus!“
In der Bibliothek traf ich René.
„Ich habe jetzt mein kleines Ein-Zimmer-Appartement, nachdem ich zwei oder drei Jahre ohne Wohnung war. Es hat geklappt. Bloss im Moment regnet es so viel. Da kann man wenig machen. Deshalb komme ich hierher in die Bibliothek. Und du?“
„Ich bin im Bus auf dem Campingplatz. Heidi ist verreist.“
„Dann bist du ja in Ruhe.“