Bei meinem Weg durch die Innenstadt sah ich zwei Maenner neben ihren abgestellten Rucksaecken auf der Strasse stehen.
„Kommt Ihr aus Polen?“ sprach ich sie an.
„Ich bin halb Pole – halb Russe.“
„Und ich bin halb Amerikaner, halb Deutscher.“
Sie hatten sich am Meer kennengelernt und waren ueber die Berge hierher gelaufen. Der Pole hatte verschiedentlich in Frankreich gearbeitet, aber jetzt waere es schlecht mit Arbeit.
„Die Spanier und Portugiesen sind jetzt ueberall, wo es frueher Arbeit gab, weil es dort so schlecht geht. Dann kommen noch die Rumaenen dazu. Da ist gerade nichts zu machen. Dann habe ich mal in Belgien gearbeitet und dadurch meinen Anspruch auf Arbeitslosengeld ueber 2.200 Euro pro Monat verloren. Ich haette nicht ausser Landes gehen sollen, aber das wusste ich nicht. Man hat schon nach drei Jahren im Land das Recht auf das Minimum. Aber du musst immer an einem Ort bleiben. Alle zwei Wochen wird das ueberprueft.“
„Ich habe gehoert, man kann drei Monate wegbleiben.“
„Nein. Sie pruefen alle zwei Wochen, ob du wirklich da bist.“
Wir gingen dann zu einer der Hilfsorganisationen und sammelten unterwegs die uebrig gebliebenen Fruechte des Marktes auf, die wir anschliessend gemeinsam verzehrten: Honigmelonen, Orangen und Birnen. Die beiden gingen dann, weil es nicht gab, was sie brauchten (ein Paar neue Schuhe), waehrend ich in einem Pulk von Frauen auf die Oeffnung wartete. Ich fragte nach einem Schlafsack und bekam auch einen, den ich von drei Euro auf zwei Euro runterhandelte, denn sie duerften nichts mehr umsonst abgeben.
Frueher hatte ich hier in der Stadt immer tonnenweise Lebensmittel gedumpstert, aber das war nun vorbei. Die Muelltonnen der Supermaerkte waren fast alle verschwunden und ins Unterirdische verlagert worden. Es gab nur noch Behaelter zum Einwerfen. Das unter anderem auch, weil die Leute, die gedumpstert hatten, zu viel Dreck herumliegen liessen. Aber ich fand dann doch noch andernorts eine Menge an Lebensmitteln, vor allem Kekse und Joghurts, die ich mitnahm. Zum Glueck lief mir mein erster Gastgeber Claude ueber den Weg, der mir nicht nur beim Tragen der schweren Last half, sondern mich auch zum Abendessen und Uebernachten zu sich einlud. Nach dem Essen meinte er:
„Ich gehe dann mal Zigaretten suchen.“
In der Tat suchte er Zigarettenstummel.
„Ich habe kein Geld. Vielleicht kriege ich in ein paar Tagen etwas zurueck von jemandem, dem ich Geld geliehen habe, sonst habe ich nichts bis zum sechsten des naechsten Monats (das waren noch zwei Wochen). Mein Neffe hatte Geburtstag; da musste ich was schenken und nun habe ich nichts mehr.“
Ich schenkte ihm ein Paeckchen Tabak. Am naechsten Tag sah ich auf der Strasse eine aeltere Dame, deren Haaransatz regelrecht orange leuchtete. Wir sprachen uns gleichzeitig an. Sie war zwar Franzoesin, hatte aber vierzig Jahre lang in Brasilien gelebt. Und sie war achzig Jahre alt, obwohl sie aussah, wie fuenfundsechzig. Ich begleitete sie ein Stueck des Weges und ging auch wieder mit ihr zurueck, weil sie ihr Handy bei ihrer Freundin vergessen hatte.
„Ich vergesse immer etwas. Das ist das Alter, wissen Sie?“
Sie lud mich zu ihr in eine sehr schoene Sozialwohnung ein.
„Normalerweise lade ich niemanden ein, aber bei Ihnen mache ich mal eine Ausnahme.“
Sie empfahl mir dann, mir eine Sozialarbeiterin zu nehmen. Ich waere dumm, wenn ich das soziale Netz nicht nutzen wuerde.
„Mir hat gerade jemand erzaehlt, sie wuerden zwei mal im Monat kontrollieren, ob man auch da ist.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich wurde nie kontrolliert und ich bin manchmal fuer Monate im Ausland.“
„Vielleicht, weil Sie schon im Rentenalter sind.“
„Ich jedenfalls habe nie davon gehoert. Ich mag die Stadt hier zwar auch nicht, aber hier gibt es Wohnungen. Ich kam hierher, weil ich in Brasilien ueberfallen wurde. Ich lag sechs Monate im Bett und danach entschied ich, hierher zu ziehen, weil meine Schwester hier wohnt.“
Ich erinnerte mich dann an einen Mann, der mich einen Tag zuvor um fuenfzig Cent gebeten hatte.
„Ich habe einen Betreuer und nur zwanzig Euro pro Woche zur Verfuegung. Dann bekomme ich immer mal Fuenfzig Euro zum Einkaufen und das war’s dann. Ich lebe schon sechs Jahre so.“
Claude erzaehlte anschliessend:
„Ich hatte frueher auch kein Telefon. Aber meine Sozialarbeiterin hat mich gezwungen, mir eines anzuschaffen. Sie wollen die Kontrolle haben, wo man ist.“
Ich las immer noch fast taeglich die neuesten Channelings. Es war wiederholt vom Loslassen die Rede. Alte Dinge, die nicht mehr zu einem gehoeren solle man loslassen. Ich bezog es auf meinen Bus. Der Bus, um den sich fast taeglich meine Gedanken kreisten, aber fuer den ich keine Loesung fand. Also liess ich los. Irgendwie schaffte ich es eh nicht, ihn zurueckzuholen. Ich schrieb eine entsprechende Mail an den Mann, auf dessen Grundstueck der Bus stand, er moege die Papiere der Frau uebergeben, an den ich den Bus urspruenglich abgeben wollte.
Beim Spazierengehen las ich dann ploetzlich das Schild an einem Haus: „Zimmer zu vermieten“. Ohne zu zoegern klopfte ich an die Tuer. Eine Frau mit langen schwarz gefaerbten Haaren und ganz in schwarz gekleidet oeffnete mir die Tuer. Ich dachte im ersten Augenblick: „Das ist eine Hexe.“ Sie zeigte mir das Zimmer. Es war angenehm gross, die Einrichtung war nicht super, aber o.k., doch das Problem war die Durchgangsstrasse direkt nebenan. Wobei die Doppelglasfenster ganz schoen abdaemmten. Sie drueckte mir einen Zettel in die Hand, was es kostet und was es alles beinhaltet. Es war etwas teuer, aber dafuer alles inklusive. Sie spielte in einer Mittelaltertheatergruppe und es gab noch einen weiteren Mitbewohner, den ich aber nur kurz auf der Treppe sah, als ich mir den Garten anschaute. Vorher haette fuer fuenf Tage eine Frau dort gewohnt, aber sie hatte die Miete nicht gezahlt. „Ausserdem waren an einem Tag sieben Leute da und sie war dreckig. Ihnen leihe ich gerne auch Laken, weil Sie sauber sind. Die andere hatte dreckige Fingernaegel. Wir rauchen allerdings beide in der ganzen Wohnung, schauen aber dafuer kein Fernsehen und ich gehe erst um sechs Uhr morgens schlafen.“
Ich gedachte das Zimmer trotz aller Nachteile zu nehmen, gerade weil die Achtzigjaehrige gemeint hat, wir braeuchten ein Zuhause. Aber ich konnte vor Aufregung die halbe Nacht nicht schlafen. Ich ging dann am fruehen nachmittag mit meinen Sachen zu ihr. Wir wickelten die Formalitaeten ab und ich zahlte fuer elf Tage bis zu Beginn der eigentlichen Miete. Diesmal sah ich den Mitbewohner von nahem. Er war ebenfalls ganz in schwarz gekleidet und hatte auf seinem Ruecken ein grosses rosametallicfarbenes Kreuz: ein Gothic. Am Vortag hatte ich noch gedacht, er sei normal, aber die Praesenz zweier dunkler Wesen war fuer mich dann doch zu viel. Ich ging kurz zu Claude, um Ihm Bericht zu erstatten, da ich noch Sachen bei ihm gelassen hatte. Danach ging ich zurueck, um meine Sachen zu holen. Derweil arbeitete die Vermieterin mit zwei Klientinnen in ihrer Kostuemschneiderei. Ich machte in der Kueche ein wenig klar Schiff, weil der Mitbewohner den Zucker umgestossen und auf der Erde verteilt hatte. Beim Geschirrspuelen fand ich zwei Tassen mit Hexenfotos. Schliesslich ging ich zu ihr, als ich meinen Rucksack fertig gepackt hatte:
„Kann ich sie mal zwei Minuten sprechen?“
„Ja, klar.“
„Ich glaube, es ist doch nicht der Zeitpunkt, mich niederzulassen.“
Ich bekam anstandslos und vollkommen korrekt mein Geld zurueck, uebergab ihr den Schluessel und schon war ich weg, in Freiheit!