Von der Wahlmama zur Grossmama

Meine Wahlmama freute sich sehr, mich zu sehen.

„Du kannst ruhig drei Monate bleiben. Dann habe ich etwas mehr Ordnung hier in meiner Wohnung“, empfing sie mich und erzaehlte mir erstmal von ihrem Aufenthalt in Griechenland und auf Gran Canaria.

Ich ging noch dumpstern in stroemendem Regen und brachte eine schwere Tasche voll mit leckerem Essen, von Salat ueber Yoghurts bis zu verschiedenen Sorten Kaese mit, die Chips nicht zu vergessen.

Ihr Sohn Leonardo war umgezogen und wohnte nun neben ihr in einer groesseren Wohnung, war jedoch nicht da. Erst als ich das letzte Mal schaute, bevor ich meine Lagerstaett aufschlagen wollte, war bei ihm Licht. Und dabei war er schon im Bett, als wir bei ihm klingelten.

„Du kannst in meiner alten Wohnung schlafen. Die steht leer. Oder bei mir, aber ich habe keine zweite Matraze.

„Macht nichts, ich habe eine Unterlegmatte.“

Und so kam ich zu einer kleinen Studiowohnung ganz fuer mich allein. Mit Wasser, Strom und Heizung inklusive.

„Du kannst die Wohnung auch mieten. Fuer 320 Euro im Monat. Dann hast du wieder einen festen Wohnsitz. Wir gehen morgen aufs Amt“, sagten die Beiden.

„Moment Mal, ich will doch nur eine Nacht hier schlafen. Reden wir morgen weiter.“

Leonardo half mir noch, die Sachen fuer die Nacht herzubringen und schon nahm ich die neue Wohnung in Beschlag.

„Eine Wohnung ganz fuer mich allein. Diesen Luxus habe ich auch schon lange nicht mehr gehabt.“

„Morgen bin ich hier“, liess mich Leonardo wissen. „Ich muss die Sache mit meinem Telefonanschluss klaeren. Ich habe seit einem Monat kein Telefon und kein Internet. Ja, ich entwickle schon telepathische Faehigkeiten mit meinen Kunden.“

„Genau, so ist das. Mit jeder technischen Neuerung verlieren wir einen Teil unserer natuerlichen Faehigkeiten.“

Am naechsten Tag zeigte mir Geneviève Bilder von Griechenland und Fotos aus dem Konzentrationslager, in dem sie als Kind mit ihrer Mutter nach dem Krieg (!) war und von dem sie mir schon frueher erzaehlt hatte.

„Ich weiss nicht, warum wir da waren. Meine Mutter hat den falschen Zug genommen. Sie wusste nicht wohin. Wir waren Vertriebene. Aber das war kein Ort fuer ein Kind! Und was das Schlimmste dort war, war der Geruch der Desinfektionsmittel.“

Am naechsten Tag machte ich einen Ausflug zu jemandem, den ich bisher nur aus dem Internet kannte und der mir sehr sympathisch war. Der erste, der mich beim Trampen mitnahm, war ein Taxifahrer aus dem Osten.

„Steigen Sie schnell ein. Ich fahre jemanden abholen.“

Er fand den Osten viel besser und lebendiger, vor allem, weil es keine Sperrstunde gibt.

„Bei uns haben die Lokale bis morgens um vier, fuenf Uhr geoeffnet. Sie sollten mal sehen, was da nachts noch los ist. Und hier schliessen sie um zwoelf Uhr nachts. Da soll man nach Hause und ins Bett gehen. Wenn es drueben wieder Arbeit gibt, dann geh ich sofort zurueck. Ich bin frueher auch viel getrampt – bis zum Plattensee. Deshalb nehme ich sie gerne mit.“

„Meistens nehmen mich Leute mit, die selbst frueher getrampt sind.“

Ich kam danach nur schleppend voran, da das Wetter nicht gut war und ich die Landstrasse nahm. Fuenf Stunden brauchte ich fuer hundertfuenfzig Kilometer, allerdings war ich zwischendurch auch viel gelaufen. Ich klingelte bei dem netten Herrn aus dem Internet und stellte mich vor:

„Hallo. Ich bin Michelle vom Vagabundenblog.“

„Du hast doch in Deutschland noch einen anderen Namen, Silvia, oder nicht?“

„Genau.“

„Willst du was essen? Ich habe Wok-Gemuese gekocht.“

„Oh ja, ich habe noch nichts gegessen.“

Es war aeusserst lecker. Bloss danach forderte er mich gleich auf, abzuspuelen und Tee zu kochen. Dies bei anderen zu tun war ich gewohnt, aber nicht, dass mich jemand dazu aufforderte. Dann machte es gar keinen Spass mehr. Auch erzaehlte er fast nur, was ich eh schon wusste.  Nach dem Essen drueckte er mir ein Buch von Michael A. Singer mit dem Titel „Die unbaendige Seele. Ein Weg der Befreiung“ in die Hand.

„Das steht gerade auf meiner Buecherliste auf Platz eins. Es hat das Buch ‚Die neue Erde’ von Eckhart Tolle abgeloest.“

Er hatte naemlich noch was zu tun, lud mich dennoch ein, bei ihm im Gaestezimmer zu uebernachten. Er fuhr indessen zu seiner Mutter, die im Sterben lag.

Bei meinem Spaziergang durch die Stadt ging ich ausnahmsweise mal in einen Laden mit Computern rein und sah das ipad im Angebot. Ich hatte so etwas vorher noch nie in der Hand. Am naechsten Morgen erfuhr ich von meinem Gastgeber, dass seine Mutter in der Nacht verstorben war.

„Ich war der letzte, der sie gesehen hat. Ich bin froh, dass sie erloest wurde. Sie hat sehr gelitten die letzte Zeit.“

Ich merkte, dass ich mich nach dem Lesen hier und da in seinem Buch ganz anders fuehlte als vorher, staerker und mehr bei mir. Ich bekam noch eine Reihe von interessanten Zeitschriften mit auf den Weg, die er nicht mehr brauchte. Beim Zuruecktrampen landete ich diesmal auf der Autobahn auf einem Parkplatz, auf dem ein Mann mittleren Alters in einem blauen Mercedes-Cabriolet anhielt. Er wollte Absinth kaufen fahren und fuhr mich noch bis zurueck zu Geneviève. Dabei erklaerte er mir viel ueber Computer und ich erfuhr,  dass das ipad keinen USB-Stick hat, weil Apple will, dass man seine Daten zentral abspeichert. Fand ich weniger interessant.

Doch kurz bevor ich weiter auf Deutschlandtour gehen wollte und mich von Leonardo und seiner Mutter verabschiedete, liess ich das Angebot des ipads verlauten.

„Ich habe noch ein altes ipad, das mir mal runtergefallen ist“, meinte Leonardo. „Es geht noch. Ich kann es dir geben. Ich habe naemlich fuer wenig Geld ein Neues bekommen und das alte wollten sie wegwerfen. Da nahm ich es mit. Komm.“

Er zeigte mir ein paar Funktionen, loeschte seine Daten und ich war ab da stolze Besitzerin eines ipad. Ich blieb noch zum Mittagessen, dann machte ich mich auf den Weg Richtung Norden. Erst mit der S-Bahn bis zur Autobahnraststaette, wo mich nach etwas Warten jemand mitnahm. Es begann bald zu regnen und wurde bald dunkel, aber ausnahmsweise trampte ich trotzdem weiter bis mich drei Brasilianerinnen mit zu einem Flughafen nahmen. Sehr praktisch, denn hier konnte ich ganz in Ruhe im Warmen schlafen neben den vielen anderen, die hier uebernachteten. Beim Herumstoebern in einem Zeitschriftenladen gewahrte ich, dass ganzheitliche Zeitschriften wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Auch in der Kirche war ich kurz, ein angenehmer Raum.

„Was Christen auszeichnet ist, dass sie immer wieder neu anfangen koennen“, nahm ich als Botschaft mit auf den Weg. Klingt doch gut.

Nach einer nicht sehr langen Nacht versuchte ich zu Trampen – nichts. So fuhr ich mit der S-Bahn weiter und lief ein ganzes Stueck bis zum Friedhof mit den Graebern meiner Grosseltern. Sie sahen beide ziemlich verwaist aus und ich investierte direkt ein paar Euro, um sie etwas freundlicher zu gestalten, setzte aber auch ein paar gefundene, also freegane  Plastikblumen dazu. Ich versuchte weiter zu trampen, aber ohne Erfolg. Ueberhaupt war mir nicht ganz wohl dabei in meiner Heimatstadt. So fuhr ich lieber mit der S-Bahn ein Stueck und trampte spaeter weiter. Ein Typ in einem VW-Bus nahm mich mit. Er machte staendig Anspielungen.

„Ich bin noch zu haben… Ich wuerde gerne mit dir einen Tee trinken… Hier ist meine Telefonnummer, wenn du mal Zeit hast…“

Am Abend wusste ich nicht wo schlafen und druckste auf dem Bahnhof herum. Natuerlich hatte ich auf dem Flughafen nicht unglaublich lange und auch nicht sehr gut geschlafen. Weshalb die Aussicht auf eine harte und kalte Nacht weniger brickelnd war. Ich schaute schon auf dem Gleis, um eventuell zu Freunden zu fahren, als mich ein Behinderter ansprach.

„Das ist aber toll, dass ich dich treffe, wo du so mit dem Rucksack herumreist. Wo willst du denn hin?“

„Weiss ich auch nicht so genau. Ich wollte sehen, ob ich jemand mit einem Gruppenticket finde, um mitzufahren. Ich weiss nicht, wo ich uebernachten soll.“

„Du kannst bei uns uebernachten. Bei mir und meiner Freundin. Ich wohne drei Doerfer weiter. Der Zug kommt gleich.“

Ich nahm die Einladung dankend an und wir fuhren zusammen zu ihm.

„Ich war frueher viel beim Rainbow, bestimmt zehn, zwoelf Mal. Du erinnerst mich daran, wie schoen. Auch, dass ich jemand, der so unterwegs ist helfen kann, freut mich total.“

„Und deine Freundin ist auch nicht eifersuechtig?“

„Glaube ich kaum.“

Sie war wirklich nicht eifersuechtig und lud mich sogar ein, noch eine Nacht zu bleiben, nachdem wir den restlichen Abend zusammen verbracht hatten. Ich schlief lange und gut bis kurz nach zehn. Beim Fruehstueck unterhielten wir uns ueber unser Leben. Er hatte ein Jahr lang in Suedfrankreich Sozialarbeit studiert und war auch sonst gerne in Frankreich.

„Vielleicht koennen wir uns ja naechstes Jahr in Frankreich treffen…“

Ich fuhr indessen erstmal zu meiner Oma ins Altersheim. Sie war unglaublich klein geworden die letzten zwei Jahre, in denen ich sie nicht gesehen hatte. Wir tauschten Neuigkeiten aus und ich erfuhr weniger angenehme Geschichten. Sie lud mich ein, bei ihr auf der Couch zu uebernachten. Sie ging naemlich schon um sieben Uhr ins Bett. Ich ging noch spazieren und sie meinte, ich solle nicht zu lange bleiben, aber was sollte ich so frueh in einem Altersheim, ging ich gewoehnlich erst recht spaet ins Bett. So flog ich schliesslich aus dem Heim raus, weil ich meine Schuhe ausgezogen hatte, bevor ich nach dem Spaziergang zu meiner Grossmutter reinging und mich eine Schwester gesehen hatte. Das war ihr suspekt. Sie kam ins Zimmer und wollte meinen Ausweis sehen. Aber das reichte nicht. Sie wollte jemand von meinen Verwandten anrufen, wenn nicht solle ich gehen. Dass sie abends um die Zeit bei einem meiner Verwandten anruft, die ich Jahre nicht mehr gesehen hatte, wollte ich nicht. Es reichte auch nicht, dass ich die Vornamen all meiner Tanten nannte. Ich ging, um meine Sachen zu holen. Sie kam mit.

„Da brauchen sie aber nicht mehr wieder zu kommen.“

„Was?“ fragte ich.

„Tagsueber ja, aber nicht nachts.“

Sie fragte meine Grossmutter, die erwachte, ob ich ihre Enkelin sei.

„Ja, das ist meine Enkelin.“

„Und wie heisst sie?“

Meine Grossmutter verwechselte alle Namen die letzte Zeit und so auch meinen. Immerhin war sie 98.

Als die Schwester mich zum Ausgang begleitete, erklaerte sie mir:

„Uebernachten geht nur nach Voranmeldung, damit wir vom Nachtdienst bescheid wissen.“

So zeltete ich ganz in der Naehe. Das war viel schoener als im Altersheim. Es war mir dort drinnen eh zu warm und meine Grossmutter steht um sechs Uhr auf. Ausserdem hatte ich so mein Zelt nicht umsonst mitgebracht. Und warm war es noch dazu. Und Sterne am Himmel. Wunderbar.

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