Kuenstlerische Suppen und Smoothies

Pablo blieb zwei Naechte und war dann auf einmal verschwunden.

“Er hat sich auf den Weg gemacht”, kommentierte Roman das Geschehen. Die Polizei hat ihm gestern und vorgestern gesagt, er duerfe nicht mehr vor der Kirche betteln. Das hat ihn sehr geaergert. Da ist er lieber gegangen.”

Mich hatte eine Frau zu sich eingeladen, die wir bei einem abendlichen Konzert kennengelernt hatten. Sie war sehr nett und hatte einen wunderschoenen beigefarbenen schweizer Rassehund. Sie wohnte in einem naheliegenden Dorf, bis zu dem ich am selben nachmittag gelaufen war. Noch in der Nacht erzaehlte ich ihr meine Geschichte mit der Gemeinschaft und sie mir umgekehrt aus ihrem Leben.

“Mein Freund ist gerade nicht da. Er ist am wwoofen auf einem Bauernhof in den Bergen, weil er gerade arbeitslos ist.”

Sie zeigte mir die Website des Hofes auf 1000 m Hoehe.

« Ich hatte frueher einen Rumaenen als Freund. Ich hatte ihn in Spanien kennengelernt. Er kam mit zu mir und wohnte bei mir. Bis er eines Tages mit meinem ‚Schatz‘ spurlos verschwand. Mein ‚Schatz‘, das war eine Sammlung alter Fuenf-Francs-Stuecke, die ich geerbt hatte.”

Sie hatte eine wunderschoene Wohnung, in der ich ausnehmend gut im Gaestezimmer schlief bis sie mich weckte, weil sie arbeiten musste.

“Ja, weil die Wohnung so schoen ist, nenne ich sie mein Schloss. Aber du kannst dir nicht vorstellen wie ich vorher gewohnt habe. Das krasse Gegenteil. Ich hatte eine vollkommen runtergkommene Wohnung mit vom Schimmel geschwaerzten Waenden. Ausserdem hoerte der Sohn der Vermieterin am Wochenende immer so laut Musik, dass ich mich nicht erholen konnte. Mein Freund hat dann hier die Wohung gefunden. Und hier wohnen wir gerade mal seit zwei Monaten. Ich arbeite in einem Restaurant als Bedienung, habe aber noch keinen Arbeitsvertrag. Und bezahlt haben sie mich auch noch nicht ganz.”

Wegen der negativen Erfahrung mit dem Rumaenen wollte sie mich nicht alleine in ihrer Wohnung lassen und so ging ich wieder zu Roman. Beim Umherstreifen sah ich eine Deutsche Mitte zwanzig mit Sack und Pack etwas abseits der Hauptstrasse sitzen.

“Ich bin krank und warte schon seit Stunden darauf, dass mich der Bauer abholt, bei dem ich vorher gewwooft habe, weil ich so nicht weiterreisen kann.”

So lud ich sie kurzerhand ein, bei Roman zu uebernachten, denn er hatte mir erlaubt, weibliche Wesen einzuladen, die nicht wuessten, wo sie schlafen sollten. An diesem Abend kamen allerdings Romans Tochter mit ihrem Freund und andere Freunde zu Besuch und die Deutsche und ich wir waren die einzigen Nichtraucher unter fuenf Rauchern. Wir assen lecker, wie immer, denn Roman war seinen Erzaehlungen nach ein echter Koch.

Sie tranken auch alle eine ganze Menge, was am naechsten Tag schon um die Mittagszeit weiterging, so dass  die ganze Meute schon am fruehen nachmittag betrunken war. Aufgrund des schoenen Wetters nach vielen Tagen taeglichen Regens, machte ich mich auf zu einer Wanderung und nahm all meine Sachen mit, obwohl ich am Ende doch wieder zuruecktrampte, weil ich nicht wusste, wo ich uebernachten sollte.

Diesmal nahm ich jedoch einen anderen Weg, an dem ich einen Bioladen gesehen hatte. Es sassen  zwei Gestalten auf einer Bank draussen im Freien und ich naeherte mich dem Ganzen. Ich hatte ein Schild mit dem Wort ‘Kunst’ gesehen und wollte der Sache nachgehen. Es sass dort der Heavy Metal Musiker ueber sechzig, mit dem ich mich am Vortag schon kurz unterhalten hatte. Er erkannte mich jedoch nicht wieder.

“Ich habe gestern mit so vielen Leuten geredet…”

Eine Frau mit langen braunen Haaren nahm sich meiner an. Sie zeigte mir die Raeumlichkeiten mit Galerie, Kunstatelier, Veranstaltungsraum fuer Konzerte und Restaurant fuer kuenstlerische Suppen und Smoothies.

“Die Terrasse ist gerade fertig geworden. Mein Freund hat mir die Tische und Baenke aus Paletten gefertigt.”

Spaeter kam noch ein Yogalehrer vorbei.

“Es gibt keinen Alkohol hier. Ich hatte keine Lust, mit Leuten umzugehen, die zu viel getrunken haben. Ich habe vor zwei Monaten aufgemacht, bin aber immer noch nicht ganz fertig. Den Veranstaltungsraum habe ich erst jetzt dieser Tage fertig gemacht.”

Als die beiden Maenner weg waren, lud sie mich zu einer Suppe und einem leckeren Bananensmoothie ein.

„Ich gebe auch Malkurse hier.“ Sie zuendete sich nach dem Essen eine Zigarette an.

„Eigentlich waere es Zeit aufzuhoeren mit dem Rauchen.“

„Es ist wichtig, dass man einen Ersatz hat. Ich habe einmal aufgehoert mit Hilfe eines Buches. Das waere vielleicht was fuer dich. Es heisst ‚Der Weg des Kuenstlers‚ von Julia Cameron. Ich habe damit nicht nur aufgehoert zu rauchen und zu trinken, sondern auch viele andere Dinge hinter mir gelassen. Es ist ein spiritueller Weg und ich wusste, ich wuerde alles tun, um ihn zu gehen.“

Sie schaute auf ihrem Handy nach dem franzoesischen Titel des Buches im Internet. Als ich danach gehen wollte, fragte sie mich:

“Und, wo schlaefst du heute?”

“Weiss ich auch nicht. Da wo ich bisher geschlafen habe, waren sie schon heute nachmittag betrunken.”

“Dann kommst du mit zu mir!”

« O.k. »

Ich durfte im Zimmer ihres Sohnes Schlafen, der gerade nicht da war. Am naechsten Morgen erzaehlte ich ihr die Geschichte mit meinem Bus, den ich halb abgegeben hatte.

“Wenn du willst, koennen wir ein Tauschgeschaeft machen. Du hilfst mir – Arbeit habe ich genug, hier zuhause und im Geschaeft – und dafuer kannst du bei mir essen und schlafen.”

“Ja super.”

 

Die andere Seite des Lebens

Nach ein paar Tagen lief ich ein Stueck und trampte dann weiter in Richtung Berge. Ein Comiczeichner nahm mich mit, der mich zu sich zum Uebernachten einlud. Er erzaehlte mir beim Abendessen:

„Ich arbeite nachts und esse nur einmal am Tag und zwar abends“.

Ich hatte den Eindruck, das waere eine Botschaft fuer mich, es ihm gleich zu tun und so ass ich fortan wie die Moslems an Ramadan ebenfalls nur noch abends. Am naechsten Tag fuhr er mich dahin wo ich urspruenglich hintrampten wollte. Vor der Kirche hatten sich drei Menschen ohne Zuhause versammelt. Einen davon kannte ich schon von vor einer Woche, als ich hier vorbeigekommen war. Er hiess Philipp. Dann war da noch ein junger Zeitgenosse, der einen autarken Platz in den Bergen aufbauen wollte.

„Ich habe allerdings nur die Koordinaten vom GPS, aber selbst kein GPS. Also weiss ich nicht, wo es ist. Ich muss erstmal eine e-mail abwarten. “

Der Dritte im Bunde war ein Spanier, der vor ein paar Tagen angekommen war. Philipp wollte erstmal einen Sandwich essen gehen und wir gingen alle mit. Derweil stiess Roman zu uns, ein wirklich magerer Franzose ueber sechzig, den ich vorher schon gesehen hatte. Von ihm erfuhr ich spaeter, dass er fast alle Jakobswege kannte, weil er sie schon gegangen war. Vor Kurzem war er von seinem Pilgerweg aus Rom zurueckgekehrt.

Am naechsten Tag lief ich ein Stueck bis ueber die spanische Grenze. Dort sprach mich auf der Strasse ein Mann an: „Ich habe dich letzt woanders schonmal gesehen.“

„Das kann sein. Ich bin heute erst hierher gekommen.“

Ein Freund von ihm kam hinzu und lud mich ein, mit zu ihm zu kommen.

„Wenn du willst, kannst du auch hier uebernachten,“ lud er mich ein.

„Ja gerne, danke.“

Juan, der mich angesprochen hatte, fragte, ob ich Kinder habe. Ich verneinte.

„Und du?“

„Ich habe eine Tochter. Zusammen mit einer Marokkanerin, mit der ich nur ganz kurz zusammen war. Meine Tochter wurde mir letztes Jahr von den Behoerden weggenommen, weil sie ein paar Mal zu spaet zur Schule gekommen war. Heutzutage reicht es, wenn das Kind muede ist oder zu spaet kommt, dass es den Eltern weggenommen wird. Es reicht auch nur ein Anruf von irgendjemandem, der dich wegen irgendetwas denunziert. Sofort wird den Leuten dann das Kind oder gleich mehrere Kinder weggenommen. In Frankreich sind es 70.000 Kinder pro Jahr.“

„In Deutschland sind es 40.000 Kinder, die pro Jahr den Eltern weggenommen werden. Sie werden dann in Heime oder zu Pflegefamilien gesteckt.“

„Meine Tochter war bei vier Pflegefamilien innerhalb kuerzester Zeit, aber da sie so verstoert war, dass sie von ihrer Mutter wegmusste, kam sie danach in ein Heim, was noch schlimmer ist. Jetzt habe ich staendig irgendwelche Gerichtstermine und komme kaum weiter. Ich will sie schon die ganze Zeit zu mir holen , das wollte ich von Anfang an, aber irgendetwas kommt immer dazwischen. Mal hatte ich keine Wohnung in der Naehe ihrer Schule und ich wollte sie nicht drei Wochen vor Unterrichtsende herausreissen, was die Behoerden dann allerdings ihrerseits gemacht haben. Das ist ein richtiges System, an dem viele Leute verdienen: Rechtsanwaelte, Richter, Sozialarbeiter, Heime, Pflegefamilien… “

Ich erzaehlte seinem Freund die ganze Geschichte, was zuletzt in meinem Leben passiert war. Er war ein sehr guter Zuhoerer. Am naechsten Morgen fuhr er mit mir zu einer Gemeinschaft in der Naehe, die sich in einem verlassenen Bergdorf angesiedelt hatte. Es war sauber und nett, aber sie nahmen gerade keine Gaeste auf, erst wieder im September. Auf der Fahrt meinte er:

„Es gibt Leute, die besser nichts sagen. Denn wenn sie zum Beispiel ueber jemanden schimpfen, weil er dies oder jenes falsch macht, wie zum Beispiel Muell in die Umwelt werfen, dann tun sie eine halbe Stunde spaeter dasselbe.“

Am nachmittag trampte ich wieder zurueck. Als ich ankam, luden mich die Jungs ohne Zuhause ein, mit ihnen auf dem Campingplatz zu Abend zu essen, denn sie uebernachteten dort. Und Roman, bei dem wir vorbeikamen, als er gerade aus dem Fenster schaute,  lud mich ein, bei ihm zu uebernachten. Er kam auch mit zum Campingplatz, obwohl er gewisse Bedenken hatte. Wir hoerten sie schon von Weitem reden, als wir ankamen. Es waren noch drei weitere junge Maenner bei ihnen, die sich auch gerade etwas zu essen machten. Zwei waren aus Deutschland und einer aus Neuseeland. Letzterer radelte durch Frankreich.

„Hier seht Ihr die andere Seite des Lebens,“ sagte ich zu den Deutschen mit Blick auf die angetrunkenen Jungs.

Es dauerte nicht sehr lange und wir hatten auch noch nichts gegessen, da kamen die Gendarmen, weil sich wohl andere Leute auf dem Campingplatz durch den Laerm belaestigt fuehlten. Sie waren allerdings sehr nett und Roman und ich verschwanden irgendwann waehrend die Gendarmen jeden fragten, was er hier mache.

Am naechsten Tag war Philipp sauer auf mich, weil ich mich am Vorabend, als die Polizei da war, nicht von ihm verabschiedet hatte. Er wurde regelrecht verletzend, als ich den Fehler machte, darauf einzugehen.

Spaeter kam Pablo, der Spanier zu uns in die Wohnung. Er war drei bis vier Tage mit den anderen zusammen gewesen  und klagte uns nun sein Leid:

„Philipp hat letzte Nacht alleine mit seinem Hund in dem Zelt geschlafen, das du uns gegeben hast. Und wir beide schliefen in der Dusche. Und von dem Geld, das Philipp taeglich erbettelt, sah ich keinen Cent.“

Er kehrte das Innere seiner Hosentaschen nach aussen, um zu zeigen, dass er wirklich keinen Cent bei sich hatte.

„Und er trinkt nur und isst nichts. Und Waschen tut er sich auch nicht. Und ich selbst war noch nie in solch einem Zustand: ungewaschen und unrasiert. “

„Er hat auch in allen Supermaerkten Hausverbot, weil er dort geklaut hat,“ warf Roman ein. „Er hat eine Woche bei mir gewohnt, aber dann habe ich ihn rausgeschmissen, weil er das Essen nicht essen wollte, das ich fuer uns gekocht habe mit den Lebensmitteln, die er gebracht hat.“

Er reichte Pablo eine kleine Plastikschuessel.

„Hier, nimm das. Damit setzt du dich vor einen Supermarkt, aber du sprichst die Leute nicht an, wie du das bisher gemacht hast. Du bist ganz ruhig und sagst ‚guten Tag‘, wenn du sie siehst und ‚danke‘, wenn sie dir etwas gegeben haben.“

Roman gab ihm auch eine Jacke, weil es kalt war.

„Jetzt hast du keine Jacke mehr, oder?“ fragte ich ihn.

„Ich brauche keine Jacke.“

Pablo und ich schauten kurz in die Bibliothek, die allerdings sehr klein war und stellten uns dann vor dem Regen unter. Es kam ein nett aussehendes junges Paar vorbei. Sie stellten sich nur kurz unter und gingen dann weiter. Ich traf sie wenig spaeter im Touristoffice wieder und fragte sie, ob sie wuessten, wo sie schlafen.

„Nein, und wir haben auch nur ganz wenig Geld.“

„Ich moechte gerne, dass Ihr Roman kennenlernt, bei dem ich gerade uebernachte. Vielleicht koennt Ihr dort auch uebernachten, mal sehen. Habt Ihr Lust, mitzukommen?“

„Ja, wir kommen mit.“

Auf der Strasse trafen wir eine Frau mit langen blondgefaerbten Haaren, die mich ansprach :

„Bist du Michelle?“

„Ja, die bin ich.“

„Philipp hat mir von dir erzaehlt und mir beschrieben wie du aussiehst. Und jetzt bin ich hier, um ihn zu sehen. Ich wollte ihn ueberraschen.“

„Philipp ist scheinbar gestern weggegangen. Die Polizei hat ihn wohl verjagt.“

„Und du weisst nicht, wohin er gegangen ist?“

„Nein. Nur Pablo weiss bescheid.“

„Mit ihm habe ich vorhin schon gesprochen. Er weiss auch nicht viel mehr.“

„Hast du ihn schon angerufen?“

„Ja, aber er nimmt nicht ab. Entweder ist sein Akku leer oder er schlaeft. Ich wohne in den Bergen etwa eineinhalb Stunden entfernt von hier. Ich lebe in einer Schaeferei und habe im Winter die Menschen ohne Zuhause zu mir eingeladen. Da war Philipp auch dabei. Aber ich kenne seine Probleme mit dem Alkohol und dass er dann oft aggressiv wird. Andere Leute haben ihm mehrmals alle seine Sachen in den Fluss geworfen und er musste immer wieder von vorne anfangen. Er ist – wie sagt man? – schizophren.“

Wir gingen Richtung Roman und trafen einen Freund von ihm, der uns alle in seinen Squat einlud. Wir gingen in den obersten Stock. Es roch nach Gas.

„Oh, ich habe den Herd vergessen, auszumachen. “

Er zeigte dem Paerchen wo sie uebernachten koennten. Es gab ein grosses Bett. Wir gingen zusammen einkaufen und ich bat Roman, der aus seinem Fenster schaute, runterzukommen.

„Ich moechte dir ein paar Leute vorstellen.“

Er kam mit in den Squat und es dauerte nicht lange, da lud er die Beiden ein, bei ihm zu uebernachten.

„Bei mir gibt es eine Heizung, hier ist es kalt. Ausserdem koennt Ihr bei mir baden und wir koennen zusammen etwas kochen…“

Sie kamen gleich mit und wir hatten eine schoene Zeit.

Auf dem Weg zurueck

Ich packte es dann, obwohl die beiden offenbar sehr traurig waren, dass ich ging. Wie ueberhaupt ueberall wo ich war mich die Leute gar nicht gehen lassen wollten.

Die zweite Frau, die mich mitnahm, fragte mich nach meinem Leben .

„Sie sind frei! Wir sind ja Sklaven, mit den Kindern, der Arbeit und allem. Das, was Sie leben ist die Freiheit. Ich freue mich, dass ich Sie kennengelernt habe. Da weiss man, dass es auch weitergeht, wenn es mal nicht mehr geht…“

Der naechste war ein netter Herr, der sieben Jahre bei der Fremdenlegion war.

„Tahiti. Da traf ich auch einen Mann, der von der SS war. 1982. Er fragte mich, ob ich Deutscher bin. Ich verstand nicht, warum er zur SS gegangen ist.“

Zum Abschied drueckte er mir einen Fuenf-Euro-Schein in die Hand, um mir was Warmes zu trinken zu kaufen. Ich kam an dem Tag bis genau zur selben Stelle wie letztes Jahr am zweiten Tag. Hier hatte ich mich unterkuehlt, was mir dann eine Erkaeltung bescherte. Ich ging an demselben Platz vorbei und verknackste mir den Fuss, aber es war nicht weiter schlimm. Beim Spaziergang durch die Stadt fand ich ein paar leere Huetten fuer den Weihnachtsmarkt, die offen waren und Leckereien von einer Baeckerei. Dabei traf ich einen aelteren Herrn, der sich ebenfalls damit versorgte. Ich setzte mich in den Bahnhof, um zu schreiben. Draussen lag auf einigen Autos noch Schnee.

Am naechsten Tag kam ich mit einigen laengeren Wartezeiten bis zu einer dieser wirklichen Grosstaedte. In einem Einkaufszentrum fand ich zwar Internet fuer’s ipad, aber keine Toilette. Die waren schon geschlossen. Man schickte mich zum Fastfoodrestaurant. Dort sass eine Farbige vor den Toiletten.

„Konsumieren Sie erst etwas bevor Sie die Toiletten benutzen!“ fuhr sie mich an. Natuerlich weigerte ich mich und ging veraergert davon. Beim Surfen im Internet sprach mich ein Menschenbuerger an, der mir eine Schlafstelle zeigen wollte. Bloss: was er mir anbot war mir zu dreckig und ungemuetlich. Irgendwann verabschiedete ich mich von ihm. Den naechsten traf ich auf der Strasse sitzend an. Er hatte den letzten Zug verpasst und war gezwungen, irgendwo zu uebernachten. Wir schliefen ganz gut in einem Wohnhaus, dessen Tuer offenstand. Wir wachten frueh auf, doch nicht frueh genug, denn zwei Bewohner liefen an uns vorbei zum Parkplatz, fuenf Minuten bevor wir alles zusammengepackt hatten. Er lud mich zum Fruehstueck in ein Café ein, wo wir mehrere Stunden verbrachten.

„Ich wohne seit zehn Jahren in einem Mobil-Home auf einem Campingplatz. Bei uns kommen auch viel Deutsche vorbei.“

Ich bekam zwei riesige Croissants und ein Pain au chocolat. Dazu trank ich sage und schreibe drei koffeinfreie Kaffee. Er trank derweil Weisswein.

Schliesslich pachte ich es dann doch und machte mich weiter auf den Weg. Ich kam gerade an der Ampel an, an der ich letztes Mal losgetrampt war, da machte mir einer ein Zeichen, ich moege zu ihm kommen. Er fuhr ein gutes Stueck weit und liess mich an einer Raststaette raus. Es regnete mittlerweile in Stroemen, genau wie sie es angesagt hatten. Eine junge Frau versuchte ebenfalls, auf der Raststaette zu trampen.

„Ich stehe schon lange. Es geht hier schlecht.“

Ich stellte mich an den anderen Ausgang. Ein paar Marokkaner sprachen mich gleich an.

„Wir koennen dich mitnehmen.“

Sie fuhren in meine fruehere Wahlheimat. So ging ich gleich zu Mehdi, der allerdings nicht aufmachte. Ich wartete am Parkhaus in der Naehe, da es immer noch regnete. Eine Frau gab mir sogar zwei Euro, weil hier normalerweise immer Bettler stehen. Schliesslich kam auch Mehdi. Er freute sich, mich zu sehen. Es war jedoch gerade ein Freund aus Algerien bei ihm zu Besuch, der mich ein wenig nervte. Die Wohnung war fuer drei einfach zu klein. Mehdi war seit ein paar Monaten ohne Arbeit und verbrachte seine Zeit auf der Suche nach Frauen im Internet.

Als ich beim Selbstbedienungsrestaurant vorbeischaute, um zu sehen, ob jemand dort war, den ich kannte, sah ich den iranischen Fensterputzer und setzte mich zu ihm. Er laberte mich Stunden mit seinem ganzen Schmonz voll. Er hatte all sein Geld nach Australien gebracht, wo er gerne hin auswandern wollte.

„Aber jetzt muss ich noch zwei Jahren in Frankreich bleiben, sonst wuerde ich gecatcht wegen Steuerhinterziehung.“

Und das, weil er dort mehr Zinsen bekommt. Er war schon zwei mal fuer sechs Wochen in Australien gewesen; einmal davon, um eine Internetbekanntschaft zu heiraten, was er dann doch nicht tat.

„Gestern habe ich meine Wohnung verkauft. Ich will mir eine Wohnung mieten und Wohngeld beantragen.“

Ich rastete kurzerhand aus.

„Du willst Wohngeld beantragen, wo du dein Geld beiseite geschafft hast, damit du mehr Zinsen bekommst?“

Noch dazu meinte er, sein Ziel waere, eine Frau fuers Leben zu finden und das, wo er mich nicht einmal zu etwas zu trinken eingeladen hat. Er selbst sass ja auf dem Trockenen. Es war jedenfalls alles zu viel fuer mich und wenn ich anfing, ihn zu hinterfragen, nahm er es als Kritik auf.

„Ich habe dich nicht nach deinem Rat gefragt!“

„Warum erzaehlst du mir denn dann das alles?“

Er begann, mich zu beschimpfen, mit welchen Leuten ich verkehre, stand auf und ging. Besser fuer mich, denn ich war echt an meiner Grenze angelangt.

Ich trampte am naechsten Tag weiter, allerdings so spaet, dass ich nicht so weit kam, um Leute zu besuchen, die ich kannte. Mein Fahrer setzte mich in der Naehe des Bahnhofs einer mir kaum bekannten Stadt ab und ich spazierte durchs Stadtzentrum. Irgendwann stiess ich auf eine Gruppe von Strassenmusikern, die gerade vor einem Restaurant spielten. Sie kamen zu mir und spielten ein Lied fuer mich, bevor sie mich einluden, mit ihnen zu kommen. Sie hoerten allerdings bald auf zu spielen und fragten mich, ob ich schon wisse, wo ich schlafe. Ein spanischstaemmiger Typ lud mich zu sich ein.

„Da hast du ein Zimmer fuer dich. Ich lebe in einem Haus. Mein Cousin holt uns ab.“

Wir gingen noch zur Wohnung, in der drei der Musiker wohnten, bis uns der Cousin abholte. Danach holten wir gemeinsam meinen Rucksack, den ich unterwegs hinter einem Gebaeude abgestellt hatte.

„Witzig“, meinte Pablo, „ein Cousin von mir wohnt keine fuenfzig Meter von hier entfernt. Ich habe zwei Cousins hier. Einer ist gerade bei mir und der andere wohnt hier.“

Diego, der auf Arbeitsuche hier war, weil es gerade in Spanien keine Arbeit gibt, erzaehlte mir am naechsten Morgen mehr aus Spanien.

„Viele Menschen verlieren derzeit ihre Haeuser und Wohnungen, weil sie die Hypotheken nicht bezahlen koennen. Ich bin auch dabei, mein Haus zu verlieren. Jetzt wuerde ich auch kein Haus mehr kaufen, sondern lieber eines mieten. Da kann man gehen, wenn man nicht mehr bleiben will. Aber dass man zulaesst, dass die Menschen auf die Strasse gesetzt werden, ist fuer mich unverstaendlich. Der Staat ist fuer die Banken und nicht fuer die Leute. Fuer mich sollten die Menschen an erster Stelle stehen und nicht das Geld. Europa ist fuer mich etwas ganz Schlechtes.“

Pablo kam mit Cowboystiefeln und im Bademantel ins Wohnzimmer. In bezug auf seine Cowboystiefel meinte er:

„Cowboystiefel habe ich schon als Jugendlicher entdeckt und keine anderen Schuhe mehr getragen.“

Ich machte mich derweil in Haus und Garten nuetzlich, wo es Unmengen zu tun gab.

Einmal ging ich mit den Musikern zusammen auf Tour durch die Stadt und sammelte Geld fuer sie ein, aber es machte mir nicht sehr grossen Spass. Sie hielten auch staendig an, um Bier zu besorgen, zu rauchen oder zu trinken. Wie ich erfuhr, waren alle ausser Pablo fuer kuerzer oder laenger im Knast gewesen, aber sie waren trotzdem nett, wenn sie nicht zu viel getrunken hatten. Alle ausser einem Ungarn, der sich grundsaetzlich nichts von Frauen sagen lassen wollte und deshalb in staendigem Konflikt mit mir stand.

Pablo stellte mich jedem als seine Verlobte vor.

„Du kannst bleiben solange du willst. Wenn du willst, dein ganzes Leben“, pflegte er zu sagen. Und: “Ich freue mich, dass du hier bist.“ Ich fuehlte mich auf jeden Fall gleich bei ihm wie zu Hause und mit seinem Cousin verstand ich mich auch so gut, dass er meinte:

„Michelle, ich moechte, dass du bleibst.“

Also blieb ich. Ich verschte einmal, zurueck zu Mehdi zu trampen, da ich meine Regenklamotten bei ihm vergessen hatte, aber weil es regnete, kam ich nicht entsprechend voran und kehrte auf halbem Weg um. Inzwischen hatte ich auch einen gelben Micky Mouse Regenponcho fuer Kinder als Ersatz gefunden.

„Findest du mich lustig?“ fragte Pablo mehrmals.

„Ich finde dich sehr lustig, aber deine Haare wuerden gerne einmal gebuerstet werden, sonst siehst du bald aus wie ein Rasta.“

„Ich bin gerne ungebuerstet. So meinen die Leute, ich waere ein Zigeuner. Es gefaellt mir, wie ein Zigeuner auszusehen. Ich buerste meine Haare nie.“

Als ich einmal mit Pablo kurz zu seinen Musikerfreunden gegangen war, traf ich einen Bekannten von ihnen auf der Strasse, den ich gerade in ihrer Wohnung begruesst hatte.

Er fragte:

„Du bist nicht dageblieben?“

„Nein, sie trinken. Aber du auch nicht?“

„Ich habe eine Freundin. Und man kommt irgendwann an den Punkt, an dem man sich zwischen Bier und seiner Freundin entscheiden muss.“

Am naechsten Tag erzaehlte mir Pablo, dass seine letzte Freundin nicht wollte, dass er mit dem Ungarn spielt.

„Sie wollte nicht, dass ich auf der Strasse spiele. In Bars schon. Und das ist immerhin sechs Monate her. Ich war 32 Jahre mit der Mutter meiner Kinder zusammen.Und ich haette nie gedacht, dass ich eines Tages alleine dastehe.“

Als wir eine Freundin von ihm besuchten, fragte sie nach der Begruessung:

„Was haelst du davon, wenn homosexuelle Paare Kinder haben; das heisst, sie adoptieren duerfen?“

„Darueber habe ich gerade heute nachgedacht. Ich finde es gut. Das waere sehr heilsam fuer alle.“

Spaeter erzaehlte mir Pablo, dass er mit ihr zusammen in der Klinik war.

„Auch sie hatte eine Depression und kam oft in mein Zimmer. Sie hatte einen Wasserkocher, den man nicht benutzen durfte, aber ich hatte meinen Schrank abgeschlossen und so machte ich dort Kaffee fuer alle. Es hielten sich immer viele Leute bei mir auf. Ihr Freund will allerdings nicht, dass sie trinkt, aber wenn er nicht da ist, trinkt sie ein wenig.“

Zu mir gewandt sagte sie:

„Pablo ist mein einziger Freund. Ich rede sonst mit niemandem. Kommt doch nochmal vorbei.“

Als ich ihr erzaehlte, dass ich zur Zeit weder rauche noch trinke, meinte sie:

„In fuenf Jahren bin ich auch so weit wie du.“

Im Internet entdeckte ich die Seiten von Christoph Fasching und begann, sein 40-seitiges Zukunftsszenario zu studieren. Ich war damit vollkommen einverstanden. Es war unglaublich postiv.

Pablo sagte, ich haette ihn geheilt und auch sein Cousin bestaetigte mir, dass es ihm nun viel besser gehe, seit ich da waere. Erstaunlich fuer mich war, dass er auf mich hoerte und Dinge tat, die ich vorgeschlagen hatte, wie zum Beispiel das Auto zu saugen, in dem noch die Fenstersplitter vom letzten Einbruch lagen oder eine Milch fuer uns zu kaufen statt mich zum Kaffee einzuladen… Er fand es gerade toll, dass ich ihm Auftraege gab, was er tun soll.

Eines Abends spielte er mit zwei Magnetkugeln. Sie naeherten sich einander an, um dann zusammenzukleben.

„Wenn beide positiv sind, stossen sie sich ab, aber wenn einer positiv ist und der andere negativ, ziehen sie sich an.“

Einmal besuchten wir zu dritt eine Lehrerkollegin. Sie tranken zusammen eine Flasche Wein und waehrend Diego mit unserer Gastgeberin draussen eine rauchte, ueberredete Pablo ihre Tochter auf charmante Art, dazubleiben.

„Komm, bleibe bei uns. Hoere dir nur ein Lied an, dann lasse ich dich in Ruhe.“

Genauso wie er mich zu allem Moeglichen ueberredete und genau wie viele Eltern ihre Kinder zu Dingen bewegen, die gar nicht deren eigenem Willen entsprechen. Ich sprach spaeter mit ihm ueber die Sache und er verstand mich auch, zumindest zeitweise.

Einen Tag unternahmen wir eine Tour in ein kleines Staedtchen in der Umgebung, wo wir eine seiner Ex-Freundinnen von vor langer Zeit besuchten. Sie war gerade knapp dem Tod entgangen, da sie wohl so etwas wie einen Darmverschluss hatte, der von ihrem Arzt nicht richtig diagnostiziert worden war.

Ich spazierte kurz vor Sonnenuntergang auf den Huegel hinter dem Haus, auf dem mich eine Madonnastatue aus Lourdes erwartete und lief anschliessend noch durch das Dorf. Nachher kam mir Pablo mit dem Auto entgegengefahren.

„Wir haben dich schon mit Taschenlampen gesucht!“

Sie waren mir jedoch nicht boese deswegen.

Fuer mich war es nach fast zwei Wochen bei Pablo an der Zeit, zu gehen. Ich wollte noch in einer Gemeinschaft vorbeischauen, in der es eine Wagenburg geben sollte, wie man mir in Deutschland erzaehlt hatte…

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