In alten Gefilden

Ich wollte mit meinem Gepaeck zu Claude, aber er war nicht da. So stellte ich meine Sachen bei dem Verein mit dem Umsonstladen ab, in dem ich ab und an mal vorbeigeschaut hatte. Ein sehr freundlicher Marokkaner, der gerade einen Computerkurs hielt empfing mich und nahm mir sogar meine Sachen aus der Hand, um sie zu verstauen.

„Du kannst sie gerne hierlassen. Wir sind mindestens bis sechs Uhr da.“

Er war mir sofort sympathisch. Ich ging eine Stunde spazieren und kam zurueck. Sie redeten immer noch mit den Leuten vom Linuxkurs, waehrend ich die Kueche ein wenig saubermachte. Draussen regnete es heftig. Spaeter kam Said, bot mir an, mir einen Tee zu kochen und fragte, ob ich wisse, wo ich uebernachte. Ich druckste ein wenig herum.

„Nicht wirklich. Die Person, bei der ich uebernachten wollte, war vorhin nicht da.“

„Wenn du willst, kannst du bei mir uebernachten. Ich lasse dich doch nicht in dieser Situation stehen.“

„Ja, super.“

Ich freute mich sehr. Er wohnte im selben Haus wie der Kabyle, nur einen Stock hoeher. Und das seit ein paar Monaten. Wir assen zusammen und redeten und redeten. Er hatte eine Freundin, die im siebten Monat schwanger war, aber woanders wohnte. Nach einiger Zeit erzaehlte er, dass er vor kurzem massive Probleme mit seinem Nachbarn von unten hatte, bei dem ich vorher zwei Mal untergekommen war.

„Er respektierte mich nicht und behandelte mich schlecht. Am Ende artete es in einen Kampf aus. Wir gingen echt aufeinander los. Aber jetzt weiss er, dass er nicht alles mit mir machen kann und die Situation hat sich beruhigt.“

Er wollte seine Freundin die naechsten Tage besuchen. Da sie nicht weit von Jocelyne entfernt wohnte, beschloss ich, mit ihm mit dem Bus mitzufahren. Es regnete in Stroemen. Seine Freundin holte uns von der Haltestelle ab und brachte mich zu Jocelyne. Sie war sehr nett und ganz locker. Als ich bei Jocelyne ankam, sass dort ein Mann mit grauem Bart und mittellangen Haaren auf dem Sofa.

„Er kam, um hier Haus zu hueten, weil ich vielleicht fuer ein paar Tage in eine andere Stadt fahre, um dort nach einer Wohnung zu suchen“, klaerte sie mich auf.

„Ich muss hier weg. Die Behoerden sind schon hinter mir her wegen meiner Tochter, die sie mir am liebsten weg nehmen moechten. Ich habe Probleme mit der Kindergaertnerin. Sie hat mir meine Tochter schon zwei mal eine viertel Stunde verspaetet wieder gegeben. Es waren schon zwei Leute hier vom Amt. Ich konnte mich nur retten, in dem ich zum Buergermeister gegangen bin.“

Es stellte sich heraus, dass ich Manu von frueher kannte, aber ich hatte ernsthaft Probleme, ihn wiederzuerkennen. Er schien fuer mich ein komplett anderer Mensch zu sein. Als wir alleine waren, erzaehlte sie mir, dass sie jetzt vermehrt Kontakt zu Hare Krishna Anhaengern hatte.

„Doch es macht mir irgendwie Angst. Ich habe das Gefuehl, sie wollen mich schwach machen, um mich dann einweihen zu koennen. Ich habe eine andere Auffassung von Gott und das sage ich ihnen auch. Ich war letzt schon einmal ein paar Tage bei Amar, aber er war nicht sehr nett zu mir. Erst dachte ich, wir werden vielleicht ein Paar, aber dann wollte er nicht  und hat mir Manu vorbeigeschickt, um Hauszuhueten, waehrend ich bei ihm bin. Aber ich weiss nicht einmal, ob ich wirklich zu ihm gehen will.“

„Wenn ja, dann kann ich ebenfalls fuer dich haushueten. Das ist kein Problem.“

Als ich ihr von der Gemeinschaft erzaehlte, meinte sie:

„Ich habe auch einen kennengelernt, der bei ihnen war. Den haben sie rausgeschmissen.“

Ich hatte am Anfang etwas Schwierigkeiten mit Manu, was sich aber nach einiger Zeit legte. Es kam dann Amar vorbei, der Manu eingeladen hatte, herzukommen. Er selbst war sechs Jahre Moench in verschiedenen Kloestern gewesen, aber heute trank und rauchte er, wie jeder andere auch.Wir unterhielten uns auch ueber die Geschichte mit meinem Bus. Beide kannten den Mann, der mir sein Terrain zur Verfuegung gestellt hatte. Sie glaubten, dass er schwarze Magie bei der ganzen Sache eingesetzt haette. Jetzt war mir klar, warum es mir nicht gelang, dorthin zurueckzufahren.

Am Ende fuhr Jocelyne dann doch nicht mit zu Amar. Jedoch hatte sie aeusserst grosse Probleme mit Manu und mir war bald klar, dass ich hier war, um sie zu beschuetzen. Manu ruhte sich bei Jocelyne aus und tat fast nichts. Wie ich spaeter erfuhr, hatte er zuvor relativ viel gearbeitet.

Eines Tages sassen Jocelyne und ich am See, als ein mit zwei Rucksaecken bepackter Hollaender auftauchte. Ich winkte ihn herbei. Er war noch am selben Tag aus Holland per Flugzeug angekommen und wollte in drei Wochen die interessantesten Plaetze in der Gegend zu besuchen. Ich spazierte mit ihm Richtung Burg. Er arbeitete mit Energie und sah alles aus einer anderen Perspektive. Auf einmal hiess er mich stehenbleiben und verankerte in mir kristalline Energie. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, aber ich kam mir vor wie in einer anderen Welt. Dann bat er mich, auf meinem Weg einen Schritt beiseite zu treten:

„Jetzt gehst du einen neuen Weg.“

Auch Jocelyne half er ad hoc bei den verschiedensten Problemen. Manu indessen reiste am naechsten Tag ab. Wir blieben noch, um auf die Kleine aufzupassen, bis Jocelyne von einer Therapiesitzung zurueckkehrte. Dann fuhr ich mit ihm zu einem heiligen Berg, den er besuchen wollte. Wir kamen trampend erst recht gut voran, aber bevor wir hochfahren wollten, kamen wir ins Stocken. Eine Frau sprach uns an:

„Bei dem schlechten Wetter ist es keine gute Idee, dort hochzufahren. Sie werden nichts sehen und es ist kalt. Bleiben Sie lieber hier und gehen auf den Campingplatz.“

Wir nahmen ihren Vorschlag an und Piet lud mich ein. Es kostete eh fuer eine und fuer zwei Personen das gleiche. Auf dem Campingplatz waren supernette Leute, die mir eine aufblasbare Matratze, eine Supermegaluftpumpe und eine warme Decke gratis zur Verfuegung stellten. So war ich fuer die Nacht wunderbar ausgestattet, auch wenn ich wegen des rauschenden Baches direkt neben uns und der hohen Energie seitens des Heiligen Berges und meines Zeltnachbarn gar nicht richtig schlafen konnte. Sie hatten den Campingplatz gerade erst uebernommen und vor einem Monat aufgemacht. Am naechsten Tag trampten wir den Berg hinauf bis zum Pass, versteckten unsere Sachen an einem Huegel, den wir auch als Schlafplatz auserkoren hatten und liefen die letzten Meter bis zum Gipfel. Dort oben sprach ich kurz mit einer Australierin, die wir am naechsten Tag wiedertrafen, als wir kurz im Geschaeft des Dorfes halt machten.

„Ich schreibe an einem Buch ueber eine indische Dichterin, die im 8. Jahrhundert lebte und deren Gedichte Gott geweiht sind. Sie lebte im Sueden Indiens und so fahre ich oft dorthin. Aber jetzt brauche ich mal eine Pause und ich kenne jemanden, der hier wohnt.“

Wir hatten ein interessantes Gespraech und Piet war von ihr ganz angetan. Am Abend schlief er auf dem Campingplatz, aber da ich mal eine ruhige Nacht ohne hochschwingenden Nachbarn und Bach neben mir verbringen wollte, suchte ich mir im Dorf einen Platz zum Schlafen. Ich fand ein paar aeusserst dicke Stuhlkissen an einer Pension, die ich zu einer Matratze zusammenlegte, um in der ersten warmen Nacht des Jahres ohne Zelt im Freien zu uebernachten. Am naechsten Tag trampten wir wieder runter und er wollte weiter, ich jedoch war mir nicht sicher, ob ich mitfahren sollte. So klappte es auch mit dem Trampen nicht. Keiner nahm uns mit.

„Wir muessen mit unserer Frequenz runtergehen. Sonst sehen sie uns nicht“, meinte Piet und forderte mich auf, es ihm gleichzutun. Aber uns nahm trozdem keiner mit. Stattdessen erwartete ich nur den Bus, den ich vor einer Woche mit Said genommen hatte, um zu sehen, ob er nicht vielleicht drin war. Er hatte mir am Abend vorher eine mail geschickt, er koenne an dem nachmittag bei Jocelyne vorbeischauen, denn ich hatte nicht nur ihn, sondern auch seine Freundin zu Jocelyne eingeladen. Ich hatte ihm jedoch zurueckgemailt, dass ich nicht da sei. Ich wollte auch keine Geschichten. Aber trotzdem. Nachdem ich mich dann umentschieden hatte und doch zu Jocelyne zurueckfahren wollte, hielt sofort eine sehr sympathische Frau mit ihrem Wohnmobil an.

„Ich fahre an die heissen Quellen in den Bergen und Du?“

Ich erklaerte ihr wo ich hinwollte und gelangte so ohne Umschweife wieder zurueck. Wir gingen zusammen zum See, da sie von weit her angereist kam und eine Pause gebrauchen konnte und ich gab ihr eine Liste mit interessanten Plaetzen in der Region. Said kam nicht vorbei, da ich ihm ja quasi abgesagt hatte. Am naechsten Tag fuhr ich mit Jocelyne zum Markt in unserem frueheren Dorf. Wie gewoehnlich hielt ich die vielen Menschen jedoch nicht aus und wollte schon wieder zuruecktrampen, als ich einen englischen Bekannten wiedertraf. Wir setzten uns zusammen an das Ufer des Flusses an einen kleinen, aber feinen Strand.

„Letzte Nacht habe ich das Weisse Haus angeschrieben, sie sollen das Bespruehen mit Chemtrails endlich lassen.“

Er war wie immer in der Offensive. Und mutig.

„Ich habe die Steuern fuer mein Haus nicht bezahlt. Ich sehe nicht ein, dass ich Kriege mitfinanzieren soll. Ich habe ihnen die Unterlagen wieder zurueckgeschickt!“

Und als ich ihm das Malheur mit meinem Bus erzaehlte, den ich quasi verloren hatte, meinte er:

„Du kannst immer zu mir kommen. Ich habe jetzt ein wenig renoviert. Das Haus ist nicht mehr ganz so dunkel wie zuvor. Ich moechte ein Bed & Breakfast daraus machen.“

Als ich wieder zuruecktrampen wollte, traf ich einen meiner ersten Bekannten der Region: Michel. Er ging mit mir ueber den Flohmarkt im naechsten Dorf, der sich gerade zu Ende neigte und in ein Konzert muendete. Wir hoerten noch eine ganze Weile zu bevor er mich bis in die Naehe von Jocelyne brachte, denn ich wollte noch ein Stueck laufen und er seine Pferde fuettern. Er wohnte jetzt in einer Jurte in einem der Doerfer in der Gegend und hatte einen Wagen mit Vierradantrieb.

„Ich war gezwungen, mir einen Wagen mit Vierradantrieb anzuschaffen. Sonst komme ich nicht zu mir hoch. Wenn es geregnet hat, ausgeschlossen. Aber mit dem Auto geht’s.“

Als ich zu Jocelyne kam, war dort ein Mann zu Besuch, den sie vor einiger Zeit kennengelernt hatte.

„Said war heute hier. Drei Mal hat er vorbeigeschaut, aber du warst nicht da.“

„Ich habe Leute getroffen und war mit ihnen unterwegs. Wie schade. So habe ich ihn verpasst.“

Tatsaechlich kam er am naechsten Tag nochmal mit seinem Moped vorbeigefahren. Wir gingen zusammen zum See.

„Eigentlich war heute Frauenwochenende bei meiner Freundin. Das macht sie ab und zu, dass sie ihre Freundinnen einlaed und sie dann unter sich sind. Aber ich hatte es vergessen und war gekommen, weil einer der Nachbarn aus dem Dorf verstorben war. Am Morgen war die Beerdigung, bei der ich dabei war. Aber es war ein trauriges Ereignis, obwohl er alt war. Deshalb wollte ich auch am Samstag nicht mehr vorbeikommen. Und dass du gestern nicht da warst, war nicht weiter schlimm. Ich hatte eine schoene Zeit hier am See.“

Bei der nachfolgenden Unterhaltung meinte er:

„Ich bin wie ich lebe immer in einem Rahmen, aber der Rahmen gefaellt mir nicht mehr.“

„Es ist gar nicht so schlecht, in einem Rahmen zu leben. Schaue dir mich an: ich bin vollkommen aus dem Rahmen gefallen. Das ist auch nicht das Richtige.“

 

 

 

The road is the best scool

„Es hat sich alles geaendert“, informierte mich André auf der Stelle. „Ich kann mein Wohnmobil nicht mehr einfach auflassen und weggehen wie frueher. Ich wurde nun schon zwei Mal beklaut. Und ich rede auch mit niemandem mehr ausser mit den Leuten, die ich von frueher kenne.“

Ich uebernachtete bei ihm im Wohnmobil  und trampte am naechsten Tag weiter, da er mir nicht so gerne mit meinem Bus helfen wollte. Am Abend nahm mich eine Frau mit, die ihren Freund besuchte, der auf einem Grundstueck in seinem Campingbus wohnte. Es war eine wunderschoene Gegend mit herrlichem Ausblick. Wir sassen im Freien und assen Sushi, das sie mitgebracht hatte. Zwei junge Leute mit Kleinkind wohnten in einem Haus in unmittelbarer Naehe.

„Zum Uebernachten kannst du waehlen zwischen Zelt und einem Bett im Haus“, lud mich ihr Freund ein.

„Dann nehme ich das Bett im Haus.“

Am naechsten Morgen empfing er mich mit:

„Du hast gut gewaehlt. Es hat heute nacht sogar gefroren.“

Ich erzaehlte ihm dann noch meine Geschichte mit dem Bus und er bot mir seine Hilfe an, allerdings erst in zehn Tagen.

„Du kannst gerne hierbleiben, wenn du willst. Ich fahre jedoch fuer eine Woche weg zu meiner Tochter.“

Ich wusste nicht recht, was tun und entschied mich kurzerhand, weiterzufahren. In der naechsten Stadt suchte ich den englischen Tom auf, aber seine Fensterlaeden waren geschlossen. Am Abend traf ich seinen Nachbarn, der nun nicht mehr in der Pizzeria, sondern in einem der beiden Cafés am Platz arbeitete. Ich fragte nach Tom.

„Der sitzt wohl im Knast. Die Polizei hat ihn abgeholt. Ich habe im Internet nach ihm recherchiert und zunaechst nichts gefunden. Erst als ich seinen Namen umgedreht habe, fand ich eine ganze Reihe von Informationen. Offenbar war er ein gesuchter Mann.“

Ein Mann, der mir am nachmittag schon sagte, ihm wuerde mein Outfit gefallen, lud mich zu sich sowohl zum Abendessen als auch zum Uebernachten ein. Claude erzaehlte mir, dass er jahrelang eine eigene Firma besass und schwer gearbeitet hatte. Aber dann war etwas in seinem Leben passiert, was er nicht verkraftet hat, so dass er alles aufgegeben hatte.

Am naechsten Tag wollte ich schon weiter, da gabelte mich beim Trampen ein mit Hut bekleideter, recht froehlich erscheinender Herr auf und lud mich zu einem Apero-Konzert gleich in der Naehe ein. Der Eintritt war auf Spendenbasis. Man konnte geben, was man wollte, musste jedoch irgendwas beisteuern, wenn auch nur ein paar Cent.

„Ich bin den Jakobsweg gegangen, erzaehlte er mir spontan. Von hier bis Santiago de Compostella. Das war im Jahre 2005.“

Nach dem Konzert lud er mich noch zu sich nach Hause ein.

„Ich wohne mit meinem Sohn zusammen, der aber gerade nicht da ist. Da hast du Platz. Mein Haus ist dein Haus. Ich arbeite in der Altenpflege. Ich betreue pflegebeduerftige Menschen in ihrer Wohnung.“

Wir unterhielten uns lange ueber alle moeglichen Themen.

„Ich bin Kabyle. Die Kabylei ist eine Region in Algerien. Die Araber haben uns so bezeichnet, weil wir den Koran ohne Gegenwehr angenommen haben.“

„Der Mensch ist die Summe seiner Entscheidungen“, war der interessanteste Satz, den er an diesem Abend sagte. Er trank den ganzen Abend an einer Flasche Rum, konnte dann allerdings scheinbar nicht sehr gut schlafen. Am naechsten Morgen setzte  er mich naemlich nach einer Tasse dekoffeiniertem Kaffee vor die Tuer, um seinen Kater zu kurieren. Am Tag zuvor wollte er mit mir noch gross auf Touren gehen… Zwei Tage spaeter traf ich ihn im Supermarkt wieder. Ich wartete an der Kasse auf ihn.

„Ich muss von halb sechs bis halb neun arbeiten. Und was machst du heute abend noch?“

„Ich weiss nicht.“

„Ich gebe dir meinen Schluessel. Du kannst zu mir gehen. Ich komme dann spaeter.“

So ging ich zu ihm und duschte erst einmal. Dann kam ich allerdings auf die weniger gute Idee, sein Netbook zu nehmen, mit dem wir an dem Abend zusammen im Internet waren. Ich schaute nach dem Namen von Tom und fand tatsaechlich eine Zeitungsmeldung von September 2013. Demnach hat er in den achtziger Jahren Kinder sexuell missbraucht. 2007 ging dann eine Frau deswegen vor Gericht. Er hatte sich hier versteckt, aber als er einen Reisepass beantragen wollte, wurden die Behoerden auf ihn aufmerksam. Er wurde zu acht Jahren Gefaengnis verurteilt. Danach schaute ich noch nach anderen Sachen bis mein Gastgeber heimkam und ein Donnerwetter losbrach.

„Das ist privat. Mein privates Laptop. Das haettest du nicht nehmen duerfen. Wie kommst du ueberhaupt dazu, in mein Zimmer zu gehen und es zu nehmen?“

„‚Mein Haus ist dein Haus‘ hast du zu mir gesagt.“

„Ja, das gilt fuer Kueche und Badezimmer. Dass du Duschen kannst und dir einen Kaffee kochen oder etwas essen. Aber nicht fuer meinen privaten Bereich. Jetzt hast du Punkte verloren.“

„Aber letzt hast du mich doch auch das Netbook benutzen lassen.“

„Das ist etwas anderes. Da war ich dabei. Das haettest du echt nicht machen duerfen.“

„Entschuldige mich. Ich sah das nicht als etwas persoenliches und habe auch nicht auf die privaten Sachen geschaut. Ich war nur im Internet. Ich bin verwoehnt von den anderen Orten, an denen ich bin. Dort darf ich ueberall das Internet benutzen.“

Er beruhigte sich dann wieder und erzaehlte, dass er den Herrn, den er versorgte in die Psychiatrie hatte einweisen lassen.

„Es war notwendig. Wegen seiner Krankheit. Er ist sowieso kurz davor, in die Hoelle zu kommen mit dem Kopf, den er hat.“

Als ich am Morgen aufstand, begegnete ich ihm im Flur.

„Ich schlafe noch. Ich bin nicht vor sechs Uhr ins Bett gegangen. Und du gehst dann besser. Ich muss heute alleine sein.“

Ich ging dann zum Surfen in den Park, denn dort gab es Wifi  vom Touristoffice.

„The road is the best scool“ fand ich als Spruch im Internet.

Ich traf dort spaeter einen Araber wieder, den ich schon kannte und mit dem ich ueber meinen Bus sprach.

„Ich wollte letzt ein Duplikat von Autopapieren fuer jemanden ausstellen lassen und sie wollten die technische Kontrolle, die nicht aelter, als sechs Monate ist, sehen.“

„Dann hat sich sowieso alles erledigt. Die technische Kontrolle ist ueber ein Jahr abgelaufen und ich habe auch kein Interesse, eine neue zu machen. Ich moechte eh nicht mehr mit dem Bus fahren.“

„Ja, sie sollen strenger geworden sein. Es ist nicht mehr so leicht wie frueher, durch die technische Kontrolle zukommen. Und wenn man ohne Kontrolle faehrt und wird erwischt, dann nehmen sie einem gleich das Fahrzeug weg und geben es einem erst wieder, wenn man damit zur Kontrolle faehrt.“

Abschliessend meinte er: „Du kannst gerne zu mir kommen zum Duschen oder auch zum Uebernachten, wenn du willst. Ich werde dich nicht draussen schlafen lassen. Ich gehe dann aber nach Hause. “

Er beschrieb mir, wo er wohnte.

„Ich habe keine Klingel, aber das Fenster ist offen. Rufe einfach.“

Ich ging kurze Zeit spaeter wirklich zu ihm und er machte auf. Wir unterhielten und ueber Gott und die Welt.

„Wer an Gott glaubt, kann sich kein Abbild machen, weder von ihm, noch von sonst etwas auf der Welt. Das ist ein Gebot. Viele religioese Gruppen machen das aber, auch die Mormonen,“ pflichtete er bei.

„In der Tat sind die Moslems fast die einzigen, die sich keine Abbilder machen,“ fuegte ich hinzu.

Als Markt war, sprach ich ausnahmsweise mal einen Verkaeufer an und fragte ihn, ob er Hilfe brauche.

„Nein, ich habe genug Zeit, um alles alleine aufzubauen.“

Es stellte sich heraus, dass er Nepalese war.

„Davon gibt es aber nicht viele hier in Frankreich. Du bist der erste, den ich treffe!“

„Ich habe auch noch keinen getroffen.“

„Und wie lange bist du schon hier?“

„Zehn Jahre. Ich bin hergekommen, um franzoesisch zu lernen und geblieben. Und jetzt verkaufe ich hier Sachen aus Nepal.“

„Ich war auch schon in Nepal. Vor vielen Jahren. Es ist mein Lieblingsland auf dieser Erde.“

„Dann wird es Zeit, dass du es wieder besuchst.“

„Ich habe den Annapurna-Trek gemacht.“

„Das ist auch mein liebster Treck, obwohl ich ihn nicht ganz gegangen bin. Nur Teile davon.“

Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile ueber dies und das, als auf einmal zwei Polizisten in Zivil auftauchten.

„Kontrolle.“

Sie zeigten beide ihren Ausweis.

„Arbeitet die Dame fuer Sie?“

Sie schauten zu mir.

„Hilft sie Ihnen beim Ausladen?“

„Nein. Wir haben uns nur unterhalten, weil er aus Nepal kommt, wo ich auch schon war.“

„Sie kommen aus Nepal?“

„Ja, ich komme aus Nepal.“

Sie liessen sich seine Papiere zeigen und der eine von beiden meinte zu mir gewandt:

„Sie haben doch geholfen, oder nicht?“

„Nein“, bestaetigte ich noch einmal, worauf er es bewenden liess. Trotzdem fragten sie:

„Und wo wohnen Sie?“

„Ich reise.“

„Da haben wir ja Glueck gehabt, dass du meine Hilfe nicht annehmen wolltest.“

„Kann man wohl sagen. Vor allem, dass wir auch keine Scherze gemacht haben, à la ‚Komm, du hast mir doch geholfen‘. Damit ist echt nicht zu Scherzen. Sie machen ihre Arbeit, aber ich mag sie trotzdem nicht.“

Spaeter ging ich zu einem anderen Stand mit indischen Klamotten, an dem ich den Verkaeufer kannte.

„Na, bist du nicht mehr in der Gemeinschaft? Haben sie Dich zu sehr gekidnappt?“

„Gekidnappt. Ja, genau das war’s.“

„Man kann einen auch mental kidnappen. So wie Sekten.“

 

 

 

 

 

Wieder unterwegs…

Durch glueckliche Fuegung hatte ich einen Platz gefunden, auf dem ich meinen Campingbus lassen konnte, denn mich draengte es dazu, mal wieder per Anhalter zu verreisen. Der erste, der mich mitnahm, hatte ein Fernglas auf der Ablage liegen.
« Ich liebe Voegel. Aber was mich hier nervt, ist die Landwirtschaft. Diese immensen Felder. Sehen Sie diese Metalldinger da?”
“Ja, ich habe sie hier in der Gegend zum ersten mal gesehen. “
“Sie sind zum Bewaessern. Furchtbare Dinger. Denn die Felder muessen eine bestimmte Groesse haben, damit man sie benutzen kann. Deshalb faellen sie die Baeume und legen die Felder zusammen. Und ohne Baeume gibt es keine Voegel mehr. Kein Leben.”
Wir naeherten uns einem gelben Rapsfeld.
“Wie schoen”, entfuhr es mir.
“Raps ist das Schlimmste. Da werden die meisten Pestizide eingesetzt. Dort drueben sind Baeume, die ich gepflanzt habe. Und fuer jede Baumreihe, die ich gepflanzt habe, wird anderswo eine Reihe gefaellt. Vor allem alte Baeume, zweihundert Jahre alt. Die ganzen Tiere, die dabei sterben. Es ist vollkommen unverstaendlich. So ein alter Baum erhaelt die Artenvielfalt und ist doch so viel wertvoller als ein junger.”
“Das ist alles nur wegen dem Geld. Gaebe es kein Geld, wuerden sie die alten Baeume nicht faellen.”
“Genau, wegen Geld tun sie alles. Ich hasse Geld. Wirklich! Es wird Zeit, dass sich etwas aendert.”
“Ich dachte, 2013 wuerde sich alles aendern.”
“Das habe ich auch gedacht. Aber es hat nicht gestimmt. Wir brauchen eine Revolution! Aber schon de Gaulle hat gesagt, die Franzosen sind zu bequem, um auf die Strasse zu gehen. Es geht nicht um mich, aber um meine Kinder. Mein Leben ist vorbei.”
Wir waren an der Autobahnauffahrt angekommen.
“Ich hoffe, ich sehe Sie wieder!”
Es gab keine Autos auf dieser Auffahrt, aber es standen zwei LKW’s vor der Mautstelle und einer der beiden nahm mich mit bis zur naechstgroesseren Stadt, von wo aus ich gut weitertrampen konnte. Am nachmittag erreichte ich eine Metropole und lief durch die Stadt bis mich ein junger Typ ansprach.
“Du bist mir aufgefallen; wie du durch die Strasse laeufst ist so leicht. Und ich fuehle mich neben dir wie transformiert. Wie ein Kind. Ohne zu denken. Das ist nicht oft, dass man so jemanden trifft. Ich wohne achtzig Kilometer von hier und muss langsam zurueckfahren. Manchmal mache ich eine Tour mit dem Fahrrad. Dann fuehle ich mich frei. Ich werde dich nicht vergessen.”
Als ich weiterlief wurde ich regelrecht in einen Park gefuehrt, in dem eine Gruppe von Studenten zusammen musizierten. Es war eine wunderschoene Musik mit Gesang in einer mir unbekannten Sprache. Ich setzte mich ein Stueck weiter ins Gras. Irgendwann tippte ich auf griechisch. Als einer der Studenten bei mir vorbeilief, sprach ich ihn an.
“Es ist griechische Musik. Ich bin allerdings Brasilianer und in Franzoesisch Guayana aufgewachsen. Ich studiere seit fuenf Jahren hier. Mein Mitbewohner kommt aus Zypern, deshalb bin ich hier.”
“Ich genoss die Musik sehr. Sie ist so schoen. Und man hoert so selten eine ganze Gruppe in der Oeffentlichkeit spielen. Kostenlos meine ich.”
Als er das zweite Mal vorbeikam, fragte er mich nach meinem Leben und ich erzaehlte ein wenig.
“Und was machst du jetzt?”
“Ich war gerade dabei zu ueberlegen, ob ich zu einem ehemals besetzten Haus gehe, einer Kuenstlerfabrik, in der ich schon Mal war, aber es ist etwas weit weg.”
Ein Freund rief ihn an und lud ihn zu sich ein.
“Ich habe aber keine Lust, so weit zu ihm zu laufen,” meinte er.
Ich ging tatsaechlich schauen, ob ich vielleicht sogar mit dem Bus zur Kuenstlerfabrik fahre, aber ich entschied mich dagegen. Als ich wieder zurueck zum Park kam, traf ich den Brasilianer, der gerade am Gehen war.
“Ich bin zurueckgekommen; ich dachte, dass es besser waere, hier im Park zu uebernachten.”
“Du kannst bei mir schlafen. Ich hatte eh keine Lust, alleine nach Hause zu laufen. Ich wohne nicht weit von hier.”
“Oh fein!” Ich freute mich sehr.
“Ich studiere Musik hier. Die Stadt mag ich sehr. Es ist angenehm, hier zu wohnen. Und durch meinen Mitbewohner bin ich an die Gruppe gekommen und wir machen nun seit einigen Jahren Musik zusammen.”
Sein Mitbewohner empfing uns mit der Nachricht, dass gleich noch drei Freundinnen vorbeikommen zum Schlafen.
“Sie haben die letzte Metro verpasst.”
Es kamen tatsaechlich noch drei junge Maedchen, waehrend ich am Laptop des Brasilianers im Internet surfte. Ich schlief recht gut auf dem Sofa. Am Morgen klaerte mich der Mitbewohner ueber die Musik auf.
“Sie kommt aus dem unteren Volk und besingt Drogen, das Gefaengnis und natuerlich die Liebe. Oft unglueckliche Liebe, die nicht erwidert wird. Die Musik ist schon sehr alt. Die Urspruenge stammen aus dem 18. Jahrhundert und die Texte vom Anfang des 20. Jahrhunderts.”
Spaeter kamen die griechischen Maedchen dazu. Zwei davon studierten hier, die dritte war zu Besuch.
“Wir wohnen weit draussen im Studentenwohnheim in winzigen Zimmern. Und weil wir die Metro verpasst hatten, schliefen wir hier.”
Nach dem Fruehstueck packte ich meine Sachen zusammen, um zu gehen. Beide Bewohner luden mich ein, jederzeit wiederzukommen. Ich lief ein ganze Weile durch die Stadt, bis ich anfing zu Trampen. Einer der Fahrer lud mich am spaeten nachmittag ein, bei ihm zu uebernachten.
“Ich nehme oft Tramper mit und biete ihnen an, bei mir zu uebernachten. Schauen Sie es sich an.”
Er zeigte auf den Garten.
“Es ist schoen, aber ich habe kein Zelt dabei”, gestand ich ihm.
“Ich kann Ihnen eines geben. Das koennen sie behalten.”
“Wie toll! Ich dachte gerade heute, dass es ein Fehler war, mein Zelt nicht mitgenommen zu haben.”
Ich bekam sogar noch eine Decke und eine phantastisch dicke Unterlegmatte geliehen. Wir assen auf der Terrasse mit Blick zum Sonnenuntergang und unterhielten uns ueber Gott und die Welt.
“Es gibt ein Sprichwort, das besagt: Gehst du einen Schritt auf Gott zu, dann kommt er dir drei Schritte entgegen und suchst du ihn wirklich, dann kommt er dir entgegen gerannt,” sagte er.
Ich schlief wunderbar und am naechsten Tag nach dem Fruehstueck zog ich weiter. Mein Weg fuehrte mich an einem Wallfahrtsort vorbei, wo mich mein hollaendischer Fahrer an einem Supermarkt absetzte. Dort sah ich gleich das Wohnmobil von meinem alten Freund André auf dem Parkplatz stehen. Er kam mir sofort entgegen, denn er hatte mich durchs Fenster gesehen. Die Freude war gross, auf beiden Seiten. Er lud mich natuerlich ein, bei ihm im Wohnmobil zu uebernachten und wir assen von seinem gedumpsterten Sachen.
“Ich gebe jetzt nicht mehr den einzelnen Leuten, was ich zu viel habe, sondern den Schwestern”, liess er mich wissen. Und er erzaehlte mir, wie er in Tschechien war bei einer Freundin von ihm, in Rumaenien bei den Zigeunern und in Spanien in der Wohnung einer belgischen Freundin, die er spaeter in ihrer Heimat besuchte.
“Sie wohnte in einem Schloss! Die ganze Strasse gehoert ihrer Familie. Aber die Zeit, die ich mit ihr verbrachte war die Hoelle ! Und seit ich mit einer Rumaenierin zusammen bin, will keiner mehr etwas von mir wissen. Die Tschechin ruft nicht mehr an und die Belgierin sagte am Telefon nur: ‘Pass auf dich auf!’ So habe ich keine Freunde mehr ausser dir. Dabei habe ich mir vorher gesagt: ‘Niemals wuerde ich mit einer Rumaenierin zusammen sein!’
“Sage nie nie.”
Er erzaehlte noch, wo er sonst noch ueberall rumgefahren war.
“Ich habe jetzt 330 000 Kilometer auf dem Tacho. Ein Jahr lang kam ich nicht hierher. Ich hatte die Handwerker bei mir zu hause. Aber ich wohne nicht in meinem Haus. Ich wohne im Wohnwagen. Ich bin verloren. Ich bin verrueckt.”
“Nicht schlimm,” erwiderte ich spontan.
Am naechsten Tag lief ich mitsamt Rucksack eine Radelstrecke entlang. Ein junger Typ baggerte mich an und ich lud ihn ein, mit mir zu laufen.
“Ich arbeite in einem Hotel in der Kueche. Morgens fuenf Stunden und abends fuenf Stunden. Macht zehn Stunden am Tag. Und ich habe nicht regelmaessig frei. Manchmal arbeite ich acht Tage hintereinander. Ich verdiene 1500 Euro. Ich bin einunddreissig. Und ich kann froh sein, wenn ich einmal im Jahr meine Eltern besuchen kann, denn hier wohnen meine Adoptiveltern. Aber ihnen darf ich nichts davon erzaehlen, wenn ich zu meinen Eltern fahre. Sonst habe ich ein Gespraech von vier Stunden. Den einen darf ich nichts von den anderen erzaehlen, sonst sind sie eifersuechtig. Aber jetzt sind wir genug gelaufen. Wollen wir nicht umdrehen?“
„Wenn du willst. Fuer mich war es gar nichts. Ich laufe jeden Tag zwei Stunden. Auf meiner letzten Arbeitsstelle, die ich hatte, sagte mir der Arzt bei der Einstellung: ‚Sie koennen arbeiten, aber Sie muessen etwas zum Ausgleich tun. ‚Ich ging am Anfang oefters joggen, aber irgendwann habe ich das vernachlaessigt. Und schliesslich wurde ich nach mehreren Jahren Arbeit so krank, dass ich gar nicht mehr arbeiten konnte. Und jetzt tue ich das, was ich schon damals haette tun sollen: Ausgleichen; in dem ich jeden Tag in der Natur spazieren gehe. Ich erzaehle Dir das, der du so viel juenger bist, damit du nicht den gleichen Fehler machst… »
Und fuer mich war es, als waere ich genau am selben Punkt wie vor viereinhalb Jahren…

Auf dem Weg zurueck

Ich packte es dann, obwohl die beiden offenbar sehr traurig waren, dass ich ging. Wie ueberhaupt ueberall wo ich war mich die Leute gar nicht gehen lassen wollten.

Die zweite Frau, die mich mitnahm, fragte mich nach meinem Leben .

„Sie sind frei! Wir sind ja Sklaven, mit den Kindern, der Arbeit und allem. Das, was Sie leben ist die Freiheit. Ich freue mich, dass ich Sie kennengelernt habe. Da weiss man, dass es auch weitergeht, wenn es mal nicht mehr geht…“

Der naechste war ein netter Herr, der sieben Jahre bei der Fremdenlegion war.

„Tahiti. Da traf ich auch einen Mann, der von der SS war. 1982. Er fragte mich, ob ich Deutscher bin. Ich verstand nicht, warum er zur SS gegangen ist.“

Zum Abschied drueckte er mir einen Fuenf-Euro-Schein in die Hand, um mir was Warmes zu trinken zu kaufen. Ich kam an dem Tag bis genau zur selben Stelle wie letztes Jahr am zweiten Tag. Hier hatte ich mich unterkuehlt, was mir dann eine Erkaeltung bescherte. Ich ging an demselben Platz vorbei und verknackste mir den Fuss, aber es war nicht weiter schlimm. Beim Spaziergang durch die Stadt fand ich ein paar leere Huetten fuer den Weihnachtsmarkt, die offen waren und Leckereien von einer Baeckerei. Dabei traf ich einen aelteren Herrn, der sich ebenfalls damit versorgte. Ich setzte mich in den Bahnhof, um zu schreiben. Draussen lag auf einigen Autos noch Schnee.

Am naechsten Tag kam ich mit einigen laengeren Wartezeiten bis zu einer dieser wirklichen Grosstaedte. In einem Einkaufszentrum fand ich zwar Internet fuer’s ipad, aber keine Toilette. Die waren schon geschlossen. Man schickte mich zum Fastfoodrestaurant. Dort sass eine Farbige vor den Toiletten.

„Konsumieren Sie erst etwas bevor Sie die Toiletten benutzen!“ fuhr sie mich an. Natuerlich weigerte ich mich und ging veraergert davon. Beim Surfen im Internet sprach mich ein Menschenbuerger an, der mir eine Schlafstelle zeigen wollte. Bloss: was er mir anbot war mir zu dreckig und ungemuetlich. Irgendwann verabschiedete ich mich von ihm. Den naechsten traf ich auf der Strasse sitzend an. Er hatte den letzten Zug verpasst und war gezwungen, irgendwo zu uebernachten. Wir schliefen ganz gut in einem Wohnhaus, dessen Tuer offenstand. Wir wachten frueh auf, doch nicht frueh genug, denn zwei Bewohner liefen an uns vorbei zum Parkplatz, fuenf Minuten bevor wir alles zusammengepackt hatten. Er lud mich zum Fruehstueck in ein Café ein, wo wir mehrere Stunden verbrachten.

„Ich wohne seit zehn Jahren in einem Mobil-Home auf einem Campingplatz. Bei uns kommen auch viel Deutsche vorbei.“

Ich bekam zwei riesige Croissants und ein Pain au chocolat. Dazu trank ich sage und schreibe drei koffeinfreie Kaffee. Er trank derweil Weisswein.

Schliesslich pachte ich es dann doch und machte mich weiter auf den Weg. Ich kam gerade an der Ampel an, an der ich letztes Mal losgetrampt war, da machte mir einer ein Zeichen, ich moege zu ihm kommen. Er fuhr ein gutes Stueck weit und liess mich an einer Raststaette raus. Es regnete mittlerweile in Stroemen, genau wie sie es angesagt hatten. Eine junge Frau versuchte ebenfalls, auf der Raststaette zu trampen.

„Ich stehe schon lange. Es geht hier schlecht.“

Ich stellte mich an den anderen Ausgang. Ein paar Marokkaner sprachen mich gleich an.

„Wir koennen dich mitnehmen.“

Sie fuhren in meine fruehere Wahlheimat. So ging ich gleich zu Mehdi, der allerdings nicht aufmachte. Ich wartete am Parkhaus in der Naehe, da es immer noch regnete. Eine Frau gab mir sogar zwei Euro, weil hier normalerweise immer Bettler stehen. Schliesslich kam auch Mehdi. Er freute sich, mich zu sehen. Es war jedoch gerade ein Freund aus Algerien bei ihm zu Besuch, der mich ein wenig nervte. Die Wohnung war fuer drei einfach zu klein. Mehdi war seit ein paar Monaten ohne Arbeit und verbrachte seine Zeit auf der Suche nach Frauen im Internet.

Als ich beim Selbstbedienungsrestaurant vorbeischaute, um zu sehen, ob jemand dort war, den ich kannte, sah ich den iranischen Fensterputzer und setzte mich zu ihm. Er laberte mich Stunden mit seinem ganzen Schmonz voll. Er hatte all sein Geld nach Australien gebracht, wo er gerne hin auswandern wollte.

„Aber jetzt muss ich noch zwei Jahren in Frankreich bleiben, sonst wuerde ich gecatcht wegen Steuerhinterziehung.“

Und das, weil er dort mehr Zinsen bekommt. Er war schon zwei mal fuer sechs Wochen in Australien gewesen; einmal davon, um eine Internetbekanntschaft zu heiraten, was er dann doch nicht tat.

„Gestern habe ich meine Wohnung verkauft. Ich will mir eine Wohnung mieten und Wohngeld beantragen.“

Ich rastete kurzerhand aus.

„Du willst Wohngeld beantragen, wo du dein Geld beiseite geschafft hast, damit du mehr Zinsen bekommst?“

Noch dazu meinte er, sein Ziel waere, eine Frau fuers Leben zu finden und das, wo er mich nicht einmal zu etwas zu trinken eingeladen hat. Er selbst sass ja auf dem Trockenen. Es war jedenfalls alles zu viel fuer mich und wenn ich anfing, ihn zu hinterfragen, nahm er es als Kritik auf.

„Ich habe dich nicht nach deinem Rat gefragt!“

„Warum erzaehlst du mir denn dann das alles?“

Er begann, mich zu beschimpfen, mit welchen Leuten ich verkehre, stand auf und ging. Besser fuer mich, denn ich war echt an meiner Grenze angelangt.

Ich trampte am naechsten Tag weiter, allerdings so spaet, dass ich nicht so weit kam, um Leute zu besuchen, die ich kannte. Mein Fahrer setzte mich in der Naehe des Bahnhofs einer mir kaum bekannten Stadt ab und ich spazierte durchs Stadtzentrum. Irgendwann stiess ich auf eine Gruppe von Strassenmusikern, die gerade vor einem Restaurant spielten. Sie kamen zu mir und spielten ein Lied fuer mich, bevor sie mich einluden, mit ihnen zu kommen. Sie hoerten allerdings bald auf zu spielen und fragten mich, ob ich schon wisse, wo ich schlafe. Ein spanischstaemmiger Typ lud mich zu sich ein.

„Da hast du ein Zimmer fuer dich. Ich lebe in einem Haus. Mein Cousin holt uns ab.“

Wir gingen noch zur Wohnung, in der drei der Musiker wohnten, bis uns der Cousin abholte. Danach holten wir gemeinsam meinen Rucksack, den ich unterwegs hinter einem Gebaeude abgestellt hatte.

„Witzig“, meinte Pablo, „ein Cousin von mir wohnt keine fuenfzig Meter von hier entfernt. Ich habe zwei Cousins hier. Einer ist gerade bei mir und der andere wohnt hier.“

Diego, der auf Arbeitsuche hier war, weil es gerade in Spanien keine Arbeit gibt, erzaehlte mir am naechsten Morgen mehr aus Spanien.

„Viele Menschen verlieren derzeit ihre Haeuser und Wohnungen, weil sie die Hypotheken nicht bezahlen koennen. Ich bin auch dabei, mein Haus zu verlieren. Jetzt wuerde ich auch kein Haus mehr kaufen, sondern lieber eines mieten. Da kann man gehen, wenn man nicht mehr bleiben will. Aber dass man zulaesst, dass die Menschen auf die Strasse gesetzt werden, ist fuer mich unverstaendlich. Der Staat ist fuer die Banken und nicht fuer die Leute. Fuer mich sollten die Menschen an erster Stelle stehen und nicht das Geld. Europa ist fuer mich etwas ganz Schlechtes.“

Pablo kam mit Cowboystiefeln und im Bademantel ins Wohnzimmer. In bezug auf seine Cowboystiefel meinte er:

„Cowboystiefel habe ich schon als Jugendlicher entdeckt und keine anderen Schuhe mehr getragen.“

Ich machte mich derweil in Haus und Garten nuetzlich, wo es Unmengen zu tun gab.

Einmal ging ich mit den Musikern zusammen auf Tour durch die Stadt und sammelte Geld fuer sie ein, aber es machte mir nicht sehr grossen Spass. Sie hielten auch staendig an, um Bier zu besorgen, zu rauchen oder zu trinken. Wie ich erfuhr, waren alle ausser Pablo fuer kuerzer oder laenger im Knast gewesen, aber sie waren trotzdem nett, wenn sie nicht zu viel getrunken hatten. Alle ausser einem Ungarn, der sich grundsaetzlich nichts von Frauen sagen lassen wollte und deshalb in staendigem Konflikt mit mir stand.

Pablo stellte mich jedem als seine Verlobte vor.

„Du kannst bleiben solange du willst. Wenn du willst, dein ganzes Leben“, pflegte er zu sagen. Und: “Ich freue mich, dass du hier bist.“ Ich fuehlte mich auf jeden Fall gleich bei ihm wie zu Hause und mit seinem Cousin verstand ich mich auch so gut, dass er meinte:

„Michelle, ich moechte, dass du bleibst.“

Also blieb ich. Ich verschte einmal, zurueck zu Mehdi zu trampen, da ich meine Regenklamotten bei ihm vergessen hatte, aber weil es regnete, kam ich nicht entsprechend voran und kehrte auf halbem Weg um. Inzwischen hatte ich auch einen gelben Micky Mouse Regenponcho fuer Kinder als Ersatz gefunden.

„Findest du mich lustig?“ fragte Pablo mehrmals.

„Ich finde dich sehr lustig, aber deine Haare wuerden gerne einmal gebuerstet werden, sonst siehst du bald aus wie ein Rasta.“

„Ich bin gerne ungebuerstet. So meinen die Leute, ich waere ein Zigeuner. Es gefaellt mir, wie ein Zigeuner auszusehen. Ich buerste meine Haare nie.“

Als ich einmal mit Pablo kurz zu seinen Musikerfreunden gegangen war, traf ich einen Bekannten von ihnen auf der Strasse, den ich gerade in ihrer Wohnung begruesst hatte.

Er fragte:

„Du bist nicht dageblieben?“

„Nein, sie trinken. Aber du auch nicht?“

„Ich habe eine Freundin. Und man kommt irgendwann an den Punkt, an dem man sich zwischen Bier und seiner Freundin entscheiden muss.“

Am naechsten Tag erzaehlte mir Pablo, dass seine letzte Freundin nicht wollte, dass er mit dem Ungarn spielt.

„Sie wollte nicht, dass ich auf der Strasse spiele. In Bars schon. Und das ist immerhin sechs Monate her. Ich war 32 Jahre mit der Mutter meiner Kinder zusammen.Und ich haette nie gedacht, dass ich eines Tages alleine dastehe.“

Als wir eine Freundin von ihm besuchten, fragte sie nach der Begruessung:

„Was haelst du davon, wenn homosexuelle Paare Kinder haben; das heisst, sie adoptieren duerfen?“

„Darueber habe ich gerade heute nachgedacht. Ich finde es gut. Das waere sehr heilsam fuer alle.“

Spaeter erzaehlte mir Pablo, dass er mit ihr zusammen in der Klinik war.

„Auch sie hatte eine Depression und kam oft in mein Zimmer. Sie hatte einen Wasserkocher, den man nicht benutzen durfte, aber ich hatte meinen Schrank abgeschlossen und so machte ich dort Kaffee fuer alle. Es hielten sich immer viele Leute bei mir auf. Ihr Freund will allerdings nicht, dass sie trinkt, aber wenn er nicht da ist, trinkt sie ein wenig.“

Zu mir gewandt sagte sie:

„Pablo ist mein einziger Freund. Ich rede sonst mit niemandem. Kommt doch nochmal vorbei.“

Als ich ihr erzaehlte, dass ich zur Zeit weder rauche noch trinke, meinte sie:

„In fuenf Jahren bin ich auch so weit wie du.“

Im Internet entdeckte ich die Seiten von Christoph Fasching und begann, sein 40-seitiges Zukunftsszenario zu studieren. Ich war damit vollkommen einverstanden. Es war unglaublich postiv.

Pablo sagte, ich haette ihn geheilt und auch sein Cousin bestaetigte mir, dass es ihm nun viel besser gehe, seit ich da waere. Erstaunlich fuer mich war, dass er auf mich hoerte und Dinge tat, die ich vorgeschlagen hatte, wie zum Beispiel das Auto zu saugen, in dem noch die Fenstersplitter vom letzten Einbruch lagen oder eine Milch fuer uns zu kaufen statt mich zum Kaffee einzuladen… Er fand es gerade toll, dass ich ihm Auftraege gab, was er tun soll.

Eines Abends spielte er mit zwei Magnetkugeln. Sie naeherten sich einander an, um dann zusammenzukleben.

„Wenn beide positiv sind, stossen sie sich ab, aber wenn einer positiv ist und der andere negativ, ziehen sie sich an.“

Einmal besuchten wir zu dritt eine Lehrerkollegin. Sie tranken zusammen eine Flasche Wein und waehrend Diego mit unserer Gastgeberin draussen eine rauchte, ueberredete Pablo ihre Tochter auf charmante Art, dazubleiben.

„Komm, bleibe bei uns. Hoere dir nur ein Lied an, dann lasse ich dich in Ruhe.“

Genauso wie er mich zu allem Moeglichen ueberredete und genau wie viele Eltern ihre Kinder zu Dingen bewegen, die gar nicht deren eigenem Willen entsprechen. Ich sprach spaeter mit ihm ueber die Sache und er verstand mich auch, zumindest zeitweise.

Einen Tag unternahmen wir eine Tour in ein kleines Staedtchen in der Umgebung, wo wir eine seiner Ex-Freundinnen von vor langer Zeit besuchten. Sie war gerade knapp dem Tod entgangen, da sie wohl so etwas wie einen Darmverschluss hatte, der von ihrem Arzt nicht richtig diagnostiziert worden war.

Ich spazierte kurz vor Sonnenuntergang auf den Huegel hinter dem Haus, auf dem mich eine Madonnastatue aus Lourdes erwartete und lief anschliessend noch durch das Dorf. Nachher kam mir Pablo mit dem Auto entgegengefahren.

„Wir haben dich schon mit Taschenlampen gesucht!“

Sie waren mir jedoch nicht boese deswegen.

Fuer mich war es nach fast zwei Wochen bei Pablo an der Zeit, zu gehen. Ich wollte noch in einer Gemeinschaft vorbeischauen, in der es eine Wagenburg geben sollte, wie man mir in Deutschland erzaehlt hatte…

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