Schmetterlingsgruesse

Eines schoenen Tages trampte ich zu Raphael. Er freute sich ueber mein Kommen. Mir gefiel seine neue Wohnung unterm Dach. Es war sehr gemuetlich. Die Frau, mit der er vor Kurzem ein Verhaeltnis hatte, war zu ihm fuer zwei Tage zurueckgekehrt und dann verschwunden.

„Wir verstehen uns so gut auf allen Ebenen. Aber als sie weg war, wollte ich sterben. Drei Mal im Ganzen. Die Musik, die du gerade hoerst, hat mich gerettet. Ansonsten hatte ich Probleme mit einem Nachbarn, aber das hat sich jetzt gelegt. Und jetzt moechte ich aufhoeren zu rauchen. Und wegziehen moechte ich auch.“

„Das hast du mir schon ein paar Mal erzaehlt, dass du aufhoeren willst zu rauchen. Und von hier wegziehen willst du, seit ich dich kenne. Aber wenn du aufhoerst zu rauchen, mache dich darauf gefasst, dass dich erstmal eine Menge Gefuehle ueberschwemmen, die normalerweise durch das Rauchen abgeschwaecht werden. Ich habe jedes Mal, wenn ich aufgehoert habe zu rauchen, erstmal zwei bis drei Stunden geheult. Das naechste, was passiert ist, dass die Zeit unendlich lange wird. Ein Tag erscheint wie die Unendlichkeit. Das Schlimmste fuer mich war jedoch das Gefuehl der Langeweile. Obwohl ich Sachen zu tun hatte. Das Gefuehl der Langeweile in Momenten, in denen ich irgendwo warten musste war so schrecklich und gross, dass ich lieber geraucht habe, als dieses Gefuehl zu empfinden.“

„Ich werde Pflanzen einnehmen, die mir helfen. Auch die Bachblueten koennen mich dabei unterstuetzen.“

„Das ist wahr und eine gute Idee.“

Die Zeit verging wie im Flug. Am fruehen abend dumpsterten wir zusammen und danach wollte ich gehen. Es war nur noch wenig Verkehr auf der Strasse. So lief ich zurueck zu Raphael. Da er jedoch auf mein Klopfen hin nicht reagierte und seine Nachbarin im Erdgeschoss weniger freundliche Worte ins Treppenhaus rief, die in mir  Angst ausloesten, schlich ich mich davon. Ich ging zu der Englaenderin, die mehrere Zimmer zu vermieten hatte. Oben war Licht und so ging ich hinauf und traf sie mit drei Maennern, von denen ich einen kannte. Er begruesste mich freudig und umarmte mich. Die Englaenderin fragte mich, was ich wollte. Ich erklaerte ihr kurz meine Situation und sie bot mir ein Zimmer an fuer fuenfzehn Euro. Ich nahm es kurzerhand an. Der Mann, den ich kannte war verschwunden, obwohl er mich informiert hatte, dass er ebenfalls hier im Erdgeschoss wohnte. Doch am naechsten Morgen lud er mich zum Fruehstueck ein und erzaehlte mir von dem Projekt einer Gemeinschaft, das er hier gerne verwirklichen wuerde, nachdem ich ihm von meinen  Gemeinschaftserfahrungen berichtet hatte.

„Ich schreibe alles dazu auf. Im Moment jedoch mache ich eine Ausbildung, damit ich eine Struktur habe. Ich lerne auch sehr viele interessante Sachen ueber die Geschichte der Region. Deshalb muss ich leider bald aufbrechen. Aber ich habe letztes Mal schon gedacht, dass ich mich gerne mit dir unterhalten wuerde und dann warst du auf einmal nicht mehr da. Deshalb wollte ich jetzt die Gelegenheit nutzen…“

„Du warst letztes Jahr an Neujahr bei der Sylvesterfeier der erste Mensch, den ich umarmt habe. Das habe ich nicht vergessen.“

„Stimmt. Ich erinnere mich.“

Wir verabschiedeten uns. Ich kam am Markt vorbei und trampte irgendwann hoch zu Jocelyne. Wer mich mitnahm, war ihre ehemalige Nachbarin. So hoerte ich die Geschichte von der anderen Seite.

„Ich ging zur selben Frau in den Kindergarten, bei der auch Jocelynes Tochter ist. Sie ist die beste Kindergaertnerin, die man sich ueberhaupt vorstellen kann. Und Jocelyne behauptet, diese Frau wuerde ihre Tochter misshandeln. Ich kann versichern, dass dies nicht wahr ist. Das ist vollkommen ausgeschlossen. Ich kenne diese Frau seit zwoelf Jahren und es ist niemals etwas Negatives aufgefallen. Jocelyne hingegen kreiert Geschichten.“

Genau dasselbe hatte Raphael im Zusammenhang mit Jocelyne erwaehnt und gesagt, ich solle aufpassen. So kam ich zurueck. Am Anfang war Jocelyne erfreut, mich zu sehen.

„Du lebst dein Leben“, empfing sie mich, als ich ihr sagte, dass ich woanders uebernachtet hatte. Doch schon bald gab es Probleme. Ich sass am Computer, als sie mich attackierte, weil ich Kontakt mit Raphael gehabt hatte, der sich wiederum hin und wieder mit dem „Erzeuger“ ihrer letzten beiden Kinder traf, wie sie ihn bezeichnete. Und grundsaetzlich kann sie es nicht verkraften und will mit niemandem etwas zu tun haben, der mit ihm auch nur entfernt Kontakt hat. Anschliessend ging sie zu einem Termin, den sie hatte. Ich packte meine Sachen, um zu gehen.

Ich stellte mich auf die Strasse, wusste jedoch nicht einmal, in welche Richtung ich fahren wollte. Vorwaerts oder wieder zurueck. Niemand nahm mich mit. Nach einer Stunde in der Sonne gab ich auf. Genau wegen demselben Problem war ich damals ausgezogen, als ich bei ihr wohnte. Wenn ich jetzt ging, wuerde ich fluechten, wie immer. Doch ich hatte keine Lust mehr darauf. Ich wollte den Konflikt irgendwie anders loesen, als davon zu laufen. Das hatte ich lange genug praktiziert. Also stellte ich meine Sachen ab und ging zum See.

Ich legte mich in den Schatten und ruhte mich aus. Ein kleiner blauer Schmetterling setzte sich auf meine Hand und krabbelte auf und ab. Ich erinnerte mich an Said, der mir in einer der letzten mails geschrieben hatte, er sende mir einen Schmetterling. Und es war fast der gleiche Platz, an dem wir im Gras gelegen hatten. Ich war entzueckt von dem Schmetterling, der sich auf meine Schuhe setzte und auf meinen Rucksack, bevor er wieder auf meine Hand kam. Auf einmal sprach mich ein Mann mit einem Strohhut an, der gerade vorbeikam.

„Gehst du spazieren?“ fragte ich ihn. „Wenn ja, wuerde ich gerne mitkommen, wenn du nichts dagegen hast.“

„Klar, komm mit. Ich bin Jacques und du?“

„Michelle.“

Er wohnte in einem der Weiler zwei Kilometer entfernt und hatte noch nie ein Auto besessen. Es hielt gleich ein Wagen an, um uns mitzunehmen. Er lud mich ein, bei ihm zu uebernachten.

„Du hast ein eigenes Zimmer.“

Wir assen im Garten zu abend. Ich wollte nicht einmal mehr zu Jocelyne zurueckgehen, um meine Sachen zu holen. Es ging auch so. Er hatte kein Internet, dafuer jedoch Fernseher und Radio. Er trank keinen Alkohol und rauchte lediglich Zigaretten.

Bevor ich ins Bett ging, schaute ich interessehalber noch, ob ich ins Internet gehen koenne mit meinem ipad und siehe da, ich hatte Glueck: ich empfing genau den Anbieter, zu dem ich das Passwort hatte – Huchuu. So konnte ich eine Mail von dem Hollaender empfangen, die sehr positiv war und in der er mich einlud, zu der Permakulturfarm zum wwoofen zu gehen, bei der er fuer ein paar Tage untergekommen war. Vier Stunden taegliche Mithilfe gegen freie Kost und Logis. Sie wuerden Leute brauchen. Und ich erfuhr, dass er vorhatte, erst am Freitag zurueck zu kommen. Ich teilte ihm die Schwierigkeiten mit, die ich mit Jocelyne hatte. Er sah vor, zwischen eins und sechs Uhr nachmittags da zu sein. Ich war nicht sehr erfreut darueber, einen weiteren Tag auf ihn warten zu duerfen, aber ich beruhigte mich damit, mir zu sagen, dass es wohl fuer irgendetwas gut ist. Und mein Gastgeber hatte mich ja fuer zwei Tage eingeladen.

Da ich entgegen meiner urspruenglichen Absicht kein Schreibheft gekauft hatte und mein altes Heft nahezu voll war, ueberlegte ich, was ich stattdessen tun koennte. Vielleicht meine Aufzeichnungen statt in ein Heft direkt aufs ipad schreiben. Und so legte ich erstmals los. Denn sonst hatte ich erstmal alles in ein Heft geschrieben und dann muehsam abgetippt an irgendeinem Computer, den ich irgendwo benutzen konnte. Noch dazu musste ich die Hefte dann irgendwo zuruecklassen und oft waren auch andere Informationen sowie Adressen darin, auf die ich dann nicht mehr zugreifen konnte.

So setzte ich mich in den Garten und schrieb drauflos. Und erstaunlicherweise ging es gar nicht so schlecht. Nach einer Runde, die ich drehte und dem Abendessen, wollte ich weiter meine Adressen aufschreiben, die ich mir auf Zetteln notiert hatte und war nicht so ganz bei der Sache, als mich mein Gastgeber fragte, ob ich nicht einmal vorhatte, eine Familie zu gruenden. Noch dazu war es mein wunder Punkt.

„Reden wir nicht darueber“, fing ich an.

„Wieso?“

„Weil mein Versuch, eine Familie zu gruenden klaeglich gescheitert ist. Weil…“

Er bekam eine Krise, weil ich nicht nett genug geantwortet hatte. Ich glaube, der eigentliche Grund seines Missmutes war jedoch, dass ich mich mit meinem ipad beschaeftigt hatte, waehrend er mit mir redete. Er sagte glatt:

„Das ist hier kein Hotel.“

Genau das hatten mir meine Elten auch immer gesagt. Ich war dann sehr freundlich zu ihm und entschuldigte mich fuer meine etwas brueske Antwort, woraufhin er sich bruhigte..

Ich schlief zwei Naechte bei ihm und als ich sicher war, dass der Hollaender zurueckgekommen war, ging ich wieder zu Jocelyne. Ich wusste, er wuerde unseren Konflikt loesen koennen und dem war auch so. Er war einfach genial. Erst wollte ich mit ihm weiterreisen, aber es fuehlte sich nicht richtig an. So trampte ich nur bis zum naechsten Ort und dann wieder zurueck. Schon als ich in das Auto einstieg, das anhielt, bedeutete mir die Fahrerin, dass ihr Beifahrer nur deutsch und kein Franzoesisch oder Englisch spreche.

„Wir haben keine gemeinsame Sprache. Wir nehmen ein Uebersetzungsprogramm zu Hilfe.“

Sie zeigte mir einen kleinen Apparat.

„Aber die beiden Sprachen sind so verschieden, auch in der Satzstellung und die Uebersetzung ist manchmal so schlecht, dass der andere es nicht versteht.“

„Wenn Sie wollen, kann ich uebersetzen. Was moechten Sie ihm denn gerne sagen?“

„Dass ich muede bin! Mit dem ganzen Uebersetzen und allem.“

Sie wollten genau zu dem Ort, an den ich auch wollte, um die Burg zu besuchen. Sie luden mich dazu ein und ich uebersetzte, was sie sich sagen wollten, obwohl sie fast alles schon voneinander wussten.

„Wir haben uns in Tunesien bei einer archaeologischen Ausgrabung kennengelernt,“ erzaehlte sie mir.

„Und uns dann in Frankreich wieder getroffen. Dann bin ich nach Deutschland zu ihm gefahren, aber es hat mir bei ihm ueberhaupt nicht gefallen. Es war mir viel zu sauber und ordentlich. Und ueberall hingen Fotos von verstorbenen Familienmitgliedern. Damals habe ich mir schon gesagt, dass es nicht geht mit uns, aber ich wollte es trotzdem nochmal probieren. Schauen Sie ihn sich an. Er ist ein schoener Mann. Aber ich habe Jahre lang fuenf Maenner versorgt, denn ich habe vier Soehne und jetzt habe ich keine Lust mehr, einen Mann zu versorgen. Ich kann auch ohne leben und moechte mein Leben nun geniessen. Ich bin 69 Jahre alt und er ist siebzig.“

Ihm gefiel es umgekehrt nicht an dem Ort in den Bergen, an dem sie wohnte. Sie meinte, er haette keine Interessen, er jedoch, sie haetten viele Dinge gemein. Sie liebten sich offenbar, aber viele Dinge waren zu schwierig. Wir redeten und redeten und setzten uns am Ende noch in ein Cafe, bevor sie sich bedankend bei mir verabschiedeten.

Ich ging dann noch spazieren und fand beim Blick in eine Muelltonne zwei Tueten voll mit Essen: verschiedene Sorten Kaese, mehrere Brote und diverse andere Lebensmittel. Schwer beladen ging ich zurueck zu Jocelyne. Sie erwartete jedoch Besuch von einem Bekannten, der eigentlich schon am nachmittag kommen wollte, aber noch nicht da war. Und sie hatte schon vorher angekuendigt, dass sie mit ihm alleine sein wollte, weswegen ich auch weggegangen war. So zog ich wieder von dannen ohne mich auf weitere Diskussionen einzulassen. Ich versteckte all meine Sachen und ging zu einem Fest am Dorfplatz. Ich stand erst eine Weile am Rande bis ich mich an einen der Tische setzte. Nach einer Weile gesellten sich andere Menschen zu mir, darunter auch eine Frau, die ich kannte. Wir tanzten. Eine Weile spaeter setzte sich ein Mann zu mir, der in dem Ort wohnte, in dem ich eineinhalb Jahre gelebt hatte.

„Heute gibt es dort Techno und Wave-Musik bis vier Uhr morgens. Da ist es unmoeglich zu schlafen. Deshalb kam ich hierher. Ich werde in meinem Auto schlafen.“

„Da koennen wir vielleicht zusammen uebernachten. Ich habe naemlich heute auch keinen Ort zum Schlafen.“

„Echt?“

Mir war es zwar nicht moeglich, im Auto einzuschlafen, aber um vier Uhr fuhr er dann zu sich nach Hause und nahm mich mit. Er wohnte erst seit drei Monaten in meinem ehemaligen Heimatort und ich hatte sogar ein eigenes Zimmer zur Verfuegung.

Unverhofft kommt oft

Zum Duschen ging ins ins Vagabundencafe, blieb jedoch nicht lange, da mir die Leute zu unangenehm waren. Ich schaute bei der Kleiderkammer fuer die Armen vorbei und erstand einen kunterbunten Poncho. Als ich zurueck zum Parkplatz fuhr, traf ich Jay.

„Ich habe seit einer Woche aufgehoert zu Rauchen, doch mir geht es so schlecht. Die Sinusitis ist so stark; ich kann langsam nicht mehr.“

„Ich hatte letzt auch drei Tage aufgehoert zu rauchen und dann ging es mir so schlecht, dass ich dachte, da rauche ich lieber. Ich hatte grosse Attacken von Langeweile. Das Rauchen hat auch grossen Einfluss auf die Gefuehle. Jedes Mal, wenn ich aufhoere zu Rauchen, weine ich erstmal zwei, drei Stunden. Und ob es jetzt fuer laenger ist, dass ich aufhoere, weiss ich noch nicht. Ich sprach letzt mit einer Frau, die fuer drei Wochen aufgehoert hat. Ich bin noch nicht bei drei Wochen. Kann gut sein, dass ich dann wieder anfange. Es kommt auch darauf an, wie man aufhoert. Wenn man mit Gewalt aufhoert, funktioniert das nur fuer einen kurzen Zeitraum, aber nicht auf lange Sicht.“

„Aber ich muss aufhoeren!“

Ich versuchte ihn zu ueberreden, mit mir zum Bus zu kommen, um ihm ein wunderschoenes Kissen fuer seine neue Wohnung zu geben, das ich gefunden und repariert hatte, aber er wollte nicht.

„Ich bin heute keine gute Begleitung“, gab er mir zur Antwort.

„Du redest wie ich.“

„Nein, ich komme heute abend oder morgen vorbei. Du bist doch sicher morgen noch da.“

„Morgen gibt es fuer mich nicht. Es gibt nur heute.“

Nichts zu machen. Es kam dann einer dazwischen, der uns um einen Euro anbettelte, um sich einen Kaese zu kaufen.

„Ich habe Kaese gefunden. Ich kann dir welchen geben. Ich gehe ihn holen.“

Ich packte ihm noch zwei Tomaten mit ein und er bedankte sich vielmals.

„Ich bin seit 32 Jahren am Reisen. Eigentlich bin ich Italiener. Ich habe fuenf Kinder. Eines davon habe ich heute gesehen. Der Aelteste ist sechsundzwanzig, der Juengste sieben. Ich habe mein Leben gelebt. Jetzt mache ich Strassentheater mit Feuer. Heute Abend, wenn es dunkel wird, mache ich eine Auffuehrung auf dem Boulevard, falls du kommen willst…“

Er quatschte dann andere Leute an und verschwand.

Ich begann in jeder freien Minute Dan Millmanns „Way of the peaceful warrior“ zu lesen. Als ich auf der Wiese vor der Bibliothek in der Sonne sass, kam ein Mann vorbei und fragte, ob die Wiese nicht nass waere. Ich zeigte ihm, dass die Unterseite meiner Decke aus Plastik war und wir kamen ins Gespraech.

„Ich bin gerade angekommen nach zweieinhalbstuendiger Fahrt. Mein Sohn ist hier im Gefaengnis und ich gehe ihn nachher besuchen. Wenigstens habe ich es schon gefunden. Er hat zehn Monate bekommen, weil er mit einem Gewehr auf Zigeuner geschossen hat. Obwohl er niemand verletzt hat. Und in seiner Wohnung haben sie das Wasser und den Strom abgestellt.“

„Wenn Sie etwas brauchen oder ich Ihnen irgendwie helfen kann…“

„Ich werde erstmal was Essen und Tabak fuer ihn holen. Dann komme ich wieder. Falls Sie dann noch da sind…“

Als er weg war, dachte ich staendig daran, dass er vielleicht jemanden zum Haushueten braeuchte. Als er zurueckkam, bot ich ihm dies an.

„Ja, das koennte interessant sein, denn er hat niemand im Moment, der sich um seine Sachen kuemmern kann. Mit seiner Freundin ging es auseinander, die kann er auch um nichts mehr bitten. Ich gehe auf jeden Fall jetzt mal zu ihm. Wo kann ich dich nachher treffen?“

„Ich bin wahrscheinlich hier nebenan im Internet und wenn nicht in meinem Bus, der auf dem Parkplatz dort hinten steht.“

In der Sonne war es direkt noch zu warm. Ausserdem gab es Laermquellen von zwei Seiten: einer Baustelle und den Laubsaugern. So ging ich ins Internet bis er vorbeikam.

„Ich habe den Wohnungsschluessel nicht bekommen, weil der Zustaendige nicht da war. Ich muss morgen frueh wiederkommen. Das heisst, ich muss hier etwas zum Uebernachten suchen. Man hat mir eine Herberge empfohlen.“

Ich bot ihm sogar an, im Bus zu uebernachten und ich im Zelt, aber das wollte er nicht so recht annehmen.

„Ich bin behindert. Ich wurde zweiunddreissig Mal am Ruecken operiert und nehme Morphium jede Stunde; acht bis zehn Stueck pro Tag. Eine Packung kostet ueber dreissig Euro. Ich nehme fuenf am Tag mit je drei Stueck. Ich hatte einen Unfall mit vierundzwanzig Jahren. Seitdem bin ich behindert. Und ich habe nicht gerade viel Geld. Wenn dann mit meinen Kindern etwas ist, kann ich ihnen nicht mal helfen. Wenn es regnet, kann ich gar nichts machen. Die letzten zwei Tage hat es bei mir geregnet, da lag ich nur im Bett.

Normal bin ich sehr schuechtern. Ich rede mit kaum jemandem. Erstaunlich, dass ich dich angesprochen habe. Und ich bin immer zuhause. Heute habe ich viel gemacht.“

Ich begleitete ihn zur Herberge. Sie hatten jedoch nur noch ein Zimmer ohne Fernseher.

„Ohne Fernseher will ich es nicht. Ohne Fernseher kann ich nicht sein. Ich schlafe nachts nicht lange, vielleicht eine dreiviertel Stunde, dann wache ich auf.“

Am Ende nahm er ein teureres Studio mit Fernseher. Wir gingen noch etwas trinken, aber am naechsten Tag merkte ich, dass das zu viel des Guten gewesen war.

Ich wollte von all dem nichts mehr wissen und nachdem ich meine Flaschen mit Wasser gefuellt hatte, fuhr ich weg. In den Ort, in dem am Wochenende das Fest der Medizinalpflanzensammler stattfinden sollte.

Ich stellte mich auf einen der vorgesehenen Parkplaetze, auf dem noch andere Wohnmobile standen. An dem ganzen naechsten Tag lernte ich nur einen Menschen kennen, der mich nicht sonderlich interessierte und traf nur einen, den ich kannte: den schwarzen Eisverkaeufer. Er erzaehlte mir genauer wie es sich mit dem Nachbar von Dominique verhielt.

„Er war sauer, weil ich ueber sein Grundstueck gefahren bin.“

Am naechsten Tag traf ich immerhin noch den pendelnden Automechaniker und eine Spanierin, die mir Dominique einmal vorgestellt hatte. Pierre erklaerte mir genau wie viel Azeton ich in den Tank fuellen soll, um etas weniger Sprit zu verbrauchen und abgasfreundlicher zu fahren: zwei Zentiliter auf 10 Liter Diesel. Die Spanierin unternahm mit mir einen kleinen Spaziergang. Nachher schenkte sie mir Gemuese, das ihr Ex-Freund ihr gegeben hatte.

„Er arbeitet im Oekomuseum hier in der Naehe in einer Reintegrationsmassnahme. Sie lernen dort wie man auf einem Bauernhof arbeitet, um spaeter in der Landwirtschaft Arbeit finden zu koennen. Es ist sympathisch dort. Da koenntest du auch mal hinfahren. Es ist allerdings schon bergig. Es geht ziemlich bergauf von hier aus.“

Mir hatte letztes Jahr schon jemand von diesem Oekomuseum erzaehlt. Und eine Frau auf einem der Staende liess verlauten, dass letztes Jahr ein Campingbus fuer zwei Wochen dort auf dem Parkplatz stand. Ich konnte naemlich einen Abstellplatz gebrauchen, um meine Post holen zu gehen, die immerhin etwa 125 Kilometer weit entfernt war, zu weit, um mit meinem Bus hin-und wieder zurueckfahren.

Am Ende der Veranstaltung bekam ich von einem Autor noch ein Maengelexemplar ueber essbare Wildpflanzen geschenkt, worueber ich mich sehr freute. Und danach fuhr ich zum Oekomuseum. Ich fragte am Morgen, ob ich meinen Bus dort alleine stehen lassen duerfe.

„Gar kein Problem“, gab mir die Frau am Empfang freundlich zurueck.

So packte ich meine Sachen zusammen und machte mich auf den Weg, um meine Post zu holen. Ich lief die ganze Strecke bis zur naechsten Ortschaft zu Fuss, etwa sechs Kilometer weit. Es kamen drei Wagen an mir vorbei, die mich jedoch nicht mitnahmen. Alle anderen fuhren in die Gegenrichtung. Ueber Umwege landete ich an einem See, an dem ich noch nie zuvor gewesen war. Ich spazierte mit meinem Rucksack bepackt ein Stueck am Ufer entlang bis mich ein Hund ansprang und anklaeffte. Sein Herrchen kam gleich hinterher.

Es handelte sich um einen deutschen Angler aus Bayern, der mich einlud, bei ihm Platz zu nehmen und einen Tee zu trinken. Ich erfuhr, dass er am Ende der Woche zurueck nach Deutschland fuhr und bereit war, mich mitzunehmen. Ich wollte naemlich eigentlich schon den ganzen Sommer ueber nach Deutschland, aber mangels eines gescheiten Abstellplatzes fuer den Bus war ich dann doch nicht gefahren. Es war recht spaet geworden und so trampte ich zurueck, um am naechsten Tag einen erneuten Anlauf zu unternehmen. Diesmal gelangte ich ohne Probleme, aber auf groesseren Umwegen an den Ort, an dem ich schliess- und endlich die viel zu teure Autoversicherung meines Ex-Freundes kuendigte, was seit einem Jahr auf dem Plan stand, aber in Frankreich nur einmal pro Jahr, zum Stichtag eben, moeglich ist. Es war eine Unterschrift im Wert von fast tausend Euro, die ich leistete. Tausend Euro, die nun nicht mehr bezahlt zu werden brauchten.

In der Stadt meiner Postadresse traf ich einen entfernten Bekannten mit einer Dose Bier in der Hand. Ich dachte, er sei unter die Menschen ohne Zuhause gegangen, doch nein.

„Ich wohne jetzt hier in der Stadt. Das Haus, indem ich wohnte ist letztes Jahr durch den Schnee kaputtgegangen. Da war ich gezwungen, hierher zu gehen. Aber es gefaellt mir nicht. Ich wuerde lieber auf dem Land wohnen.“

Ein Typ mit ziemlichem Bauch, um nicht zu sagen Wanst gesellte sich zu uns.

„Und du bist auf der Reise?“ sprach er mich an.

Ich erfuhr, dass er im gleichen Dorf wie Raphael wohnte, bei einer Frau mit einer 26-jaehrigen und einer 18-jaehrigenTochter und das in einer Sozialwohnung.

„Im Dezember gehe ich weg. Vielleicht kannst du dann bei ihr wohnen. Du kannst heute bei mir schlafen, dann lernst du sie kennen. Ich uebernachte im Wohnzimmer auf einer Couch.“

Nachdem ich ein wenig aus meinem Leben erzaehlte, meinte er:

„Ich bin auch Nomade, aber mit fixen Orten. Ich habe zwei feste Orte in der Stadt, beides Squats und hier bin ich wegen meiner Tochter. Sie ist sechzehn und lebt in einer Gastfamilie bei einer Ballettaenzerin mit deren 18-jaehrigen Tochter. Mit der Mutter meiner Tochter bin ich noch locker befreundet. Uebrigens, wir koennen mit dem Zug fuer einen Euro zurueckfahren. Er faehrt um halb acht.“

Wir hatten noch eineinhalb Stunden Zeit und ich zeigte ihm den Park am Flussufer, der ihn jedoch nicht sonderlich interessierte. Im Zug trafen wir seine Mitbewohnerin, die, wie wir erst nach einiger Zeit feststellten, direkt neben uns sass. Es wurde ein netter Abend, bloss am naechsten Morgen rastete er aus. Erstens weckte er mich um viertel nach acht. Dann fragte er mich schon im Bett tausend Fragen, wie wann ich gehen wuerde und so. Was weiterging, nachdem er mit dem Hund zurueckkam. Als ich ihn bat, mit seinen bloeden Fragen aufzuhoeren, bekam er einen Totalausraster. Er hoerte gar nicht mehr auf zu reden: dass er in Brasilien zu fuenfzehn Jahren verurteilt waere, in Mexiko zu zehn und ich weiss nicht wo noch alles zu wie vielen Jahren, dass er ein famoeser Hausbesetzer sei, schon riesige Feuersaeulen gegen die Polizei errichtet hatte, wenn ich was mit ihm machen wuerde, dann auch Probleme mit der Polizei kriegen wuerde und und und. Er war aggressiv bis zum Anschlag, respektlos uns Frauen gegenueber, grenzueberschreitend und fast schon verletzend. Und er machte einem angst.

So machte ich mich lieber auf, um meine Post zu holen und trampte zurueck zu meinem Bus. Ich stellte mich auf den Wohnmobilparkplatz in die Stadt. Eine Frau in einem Kleinbus stand ebenfalls dort und ich kam mit ihr ins Gespraech. Sie brachte mich allerdings schon innerhalb von fuenf Minuten auf die Palme, indem sie ebenfalls lauter bloede Fragen stellte. Wie zum Beispiel, ob der Bus meine Zweitwohnung waere… Sie habe jetzt eine Wohnung hier gemietet.

„Ich finde alle Leute in unserem Alter sollten eine Wohnung haben.“

Ja, das fand ich auch.

„Ach, das soll man gar nicht sagen, oder doch? Gerade erst recht, um etwas zu veraendern,“ schob sie hinterher.

Dann ging es um Spanien, das im Winter waermer ist. Aber sie sah nicht einmal ein, dass Spanien wesentlich gefaehrlicher als Frankreich ist. Sie hatte einfach ueberhaupt keine Ahnung. Zum Glueck kam ein Auto angefahren und blieb mit laufendem Motor stehen. Der  Laerm stoerte sie derart, dass sie Tuer zumachte. Ich nutzte die Gelegenheit, abzuhauen, obwohl sie mich eingeladen hatte, in ihren Wagen zu kommen.

Dann sah sie mich, als ich mit dem Fahrrad wegfuhr.

„Faehrst du spazieren?“ fragte sie in einem dermassen bloeden Tonfall, dass es mir schon wieder reichte. Und als ich wiederkam und ihr ein Brot anbot:

„Brot, nein danke, ich esse nur bio, aber das ist nett. Klapperst du die ganzen Geschaefte ab und schaust in die Muelltonnen?“

Ich hatte keine Lust, auch nur noch einen weiteren Satz mit ihr zu wechseln und dampfte ab, um mir etwas zu Essen zu machen.

Am naechsten Tag begann ich zu packen bevor ich ins Internet ging und die Fotos von indischen Goettern ausdruckte, die mir Jay zugemailt hatte. Das Bild von Krishna und seiner Frau Radha hatte eine Groesse von exakt 66,6 Kilobyte, was mir nicht gerade Vertrauen einfloesste.

Am Abend schaute ich noch bei Tom vorbei, der sich offenbar ueber meinen Besuch freute.

„Ich habe seit gestern einen neuen Fernseher, schau.“

„Der ist aber interessant; ein Flachbildschirm. Er stoert mich gar nicht. Alle anderen Fernseher stoeren mich ungemein, wenn sie angeschaltet sind wegen der enorm negativen Energien, die sie ausstrahlen. Dieser jedoch ueberhaupt nicht.“

Ich fand die Bedienungsanleitung.

„Es ist ein LCD-Bildschirm, deshalb.“

„LCD? Genau. Mein Nachbar hat ihn gestern eingestellt.“

Tom schaute viel besser aus als zuvor.

„Wie geht’s dir?“

„Besser. Ich habe eine Siesta gemacht und sogar gegessen.“ Er laechelte.

Dann schaute ich mir wieder ein Buch ueber Drachen an. Auch hier stand die Geschichte von Tristan und Isolde und auch, dass in der westlichen Welt Drachen durchweg als boese angesehen werden, waehrend sie in China als Gluecksbringer gelten.

„Ich finde bloss ein Buch nicht,“ sagte er, „‘Der Pfad des friedvollen Kriegers‘.“

„Von Dan Millmann. Das habe ich. Das hast du mir gegeben. Ich habe es schon zu zwei Dritteln gelesen. Wenn ich es fertig habe, gebe ich es dir zurueck.“

Er gab mir Schokolade und ich ass fast die ganze Tafel.

„Ich selbst habe aufgehoert, Schokolade zu essen,“ berichtete er. „Meine fruehere Freundin hat mir ganz viele Tafeln gekauft. Sie sind alle noch da. Das ist sie, da auf dem Foto. Neben dem Tipi aus Plastik. In dem hat sie ihr letztes Kind zur Welt gebracht. Es ist auf einer Insel im Fluss, wo man nur durch ein Seil hinkommt. Kein Arzt wollte zu ihr kommen, als sie entbunden hat. Dann habe ich sie die naechsten Tage nach der Geburt jeden Tag ins Krankenhaus gefahren. Jetzt hat sie ein Haus gemietet, aber sie lebt kaum darin. Sie hasst es. Sie schlaeft mit ihren beiden Kindern in ihrem Bus. Der Grosse ist jetzt fuenf, die Kleine ein Jahr alt. Und sie kuemmert sich um die Beiden ganz allein. Sie hat sich vom Vater, einem Freund von mir, getrennt.“

„Sie sieht symphatisch aus. Ich wuerde sie gerne kennenlernen. Ja, mir scheint fast, ich wuerde sie kennen.“

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