Gehe! Go!

Am naechsten Morgen war Marina krank. Sie hatte riesige mit Wasser gefuellte Pusteln und ging gleich zum Arzt. Eine Freundin, mit der sie telefoniert hatte meinte, es seien Windpocken, aber der Arzt sagte, es sei eine Allergie gegen ein Medikament, das sie genommen hatte. Ich machte derweil die Wohnung sauber.

„Seit Monaten habe ich nichts mehr hier gemacht. Ich arbeitete die ganze Zeit nur im Geschaeft. Und dabei war ich davor sehr sauber und ordentlich. Da bin ich aber froh, dass es jetzt wieder sauber wird. Weisst du, vor zwei Jahren, da wollte ich eine Weltreise machen. Und dann kam ich hierher. Ich wollte meine Weltreise in Spanien beginnen. Jeder sagte mir, eine Weltreise beginnt man doch nicht in Spanien. Und dann kam ich hier in die Region, aus der ich urspruenglich stamme und bin geblieben.“

Am nachmittag ging ich mit dem Hund spazieren und landete im naechsten Dorf. Ich folgte einem Wanderweg und kam an einem Haus vorbei, an dem eine Flagge von England hing. Einen Stock hoeher sah ich einen Mann mit braunen Locken am Fenster stehen.

„Wanderst du?“ fragte er mich.

„Nein, ich gehe nur spazieren. Wollen Sie mitkommen?“

„Ja.“

„Dann kommen Sie runter.“

Zwei Minuten spaeter war er da. Er arbeitete in einem Verein, in dem sie Wanderwege markieren und pflegen. Er spielte mit dem Hund, der den ganzen Tag ueber unentwegt Stoeckchenwerfen spielen wollte und sich immer wieder mit einem Stock oder Stein vor einen legte. Fabrice kam urspruenglich aus dem Nachbardepartment.

„Hier muss man wie in Pantoffeln ankommen. Weisst du, was ich meine?“

„Ich kann es mir vorstellen. Leise.“

„Genau. Nicht als Eroberer.“

Das Ding war, dass ich vor Kurzem noch dachte, das waere vielleicht etwas fuer mich, Spazierwege instand zu halten. Er wuerde auch sonst alleine viel spazieren gehen.

„Aber ich uebernachte lieber abseits von Wegen im Zelt als in Herbergen.“

„In den letzten zwoelf Monaten verbrachte ich sieben Monate in einer Gemeinschaft. Ich wollte eigentlich Teil von ihnen werden. Aber in letzter Sekunde bin ich gegangen.“

„Ich bin absolut gegen jede Dogmatik und ich bin lieber frei.“

„So geht es mir auch.“

Irgendwie war er mir auf den ersten Blick symphatisch und ich vermisste ihn gleich, nachdem ich zu Marina zurueckgekehrt war. Am naechsten Tag schaute ich wieder bei ihm vorbei. Diesmal war eine Freundin bei ihm.

„Hallo. Ich wollte Euch fragen, ob Ihr mitkommt Spazierengehen?“

„Warum nicht?“ fragte Chantalle.

So gingen wir zu dritt durch den Wald den Berg hinauf.

„Das ist ja wie im tropischen Regenwald“, entfuhr es mir staunend.

„Ja, es ist echt wunderschoen. Was fuer eine gute Idee, spazieren zu gehen,“ meinte Chantalle. Fabrice spielte indessen Stoeckchenwerfen mit Funny. Er war phantastisch darin. Nicht nur, dass Funny hochsprang, um ans Stoeckchen zu kommen, er warf den Stock auch vier Mal so weit weg wie ich. Am Ende unseres gemeinsamen Spazierganges sagte er, ich koenne immer wieder kommen.

Die Tage war davon die Rede, dass wenn wir einen Fehler gemacht haben,  wichtig sei, sich selbst zu verzeihen. Und: es kaeme nicht darauf an, wie oft wir gefallen sind, sondern darauf, wie oft wir wieder aufgestanden sind.

Es kam dann eine e-mail von der Person, bei der mein Bus stand, in der ich aufgefordert wurde, ihn sofort und ohne Verzoegerung abzuholen. Wenn ich nicht reagiere, waere der Bus weg. Ich wollte am liebsten gleich lostrampen, merkte aber, dass es nicht das richtige war. So sprach ich mit Marina darueber.

„Warte mal, vielleicht finde ich jemanden, der mit dir faehrt und dir hilft…“

So ging ich zu Maurice und fragte ihn, ob er mit mir zum Bus fahren koennte. Er machte gleich eine Rechnung, was alles kosten wuerde, wenn ich ihn wieder fit machen wollte: 500 Euro. Er haette erst in ein paar Tagen Zeit und wenn er mitkomme, dann muesste alles ein wenig vorausgeplant sein, was nicht gerade meine Lebensart ist.

In einem Channeling las ich, dass Dinge, die nicht mehr mit uns in Resonanz sind aufhoeren, Teil unseres Lebens zu sein. Weshalb wir nicht versuchen sollten, Dinge festzuhalten, die beendet sind, egal wie gut sie uns in unserer Vergangenheit dienten.

Marina schlief zeitweise bei ihrem Freund und ich war alleine mit Funny zuhause. Nach zehn Tagen sagte Marina ploetzlich am Morgen, als ich ins Geschaeft kam:

„Ich will nicht mehr, dass du mir hier im Geschaeft hilfst. Ich habe das Finanzamt angerufen und sie haben mir gesagt, dass du mir nicht helfen darfst. Nicht einmal Leute aus der eigenen Familie duerfen mir helfen, sogar mein Sohn streng genommen nicht. Aber da druecken sie noch ein Auge zu, weil er bei mir wohnt. Und die Leute sind sehr neidisch, weisst du. Wenn sie dich hier etwas tun sehen, koennten sie denken, ich beschaeftige dich schwarz. Oder wenn eine Kontrolle kommt, dann muesste ich eine hohe Strafe zahlen. Das will ich nicht.“

Als wir zum Mittagessen zu ihr fuhren, meinte sie:

„Meine Nachbarin hat Pferde. Sie kann dich auch beherbergen. Und sie hat ganz viel Arbeit. Vielleicht waere das was fuer dich.“

„Das ist bestimmt zu hart fuer mich. Ich wollte so etwas schon mal machen, habe es dann aber sein gelassen, weil es koerperlich zu anstrengend gewesen waere.“

„Heute morgen habe ich Maurice getroffen. Er soll in allen Supermaerkten geklaut haben. Und die Leute sagen, er habe eine Wohnung und Autos und sie fragten sich, warum er bettele, wenn er eine Wohnung hat.“

„Soweit ich weiss, hat er keine Wohnung, sondern wohnt in zwei kleinen Wohnwaegen auf dem Wagenplatz der Gemeinde. Und er dumpstert, um an Essen zu kommen.“

„Na, die Leute erzaehlen viel hier.“

„Ja, das hat man mir auch von Anfang an gesagt.“

Den naechsten Morgen wachte ich mit den Worten „Gehe! Go!“ auf. So packte ich meine Sachen. Als ich bei Marina am Geschaeft eine Nachricht hinterliess, kam sie gerade angefahren. Wir verabschiedeten uns und ich trampte los. Ich fuhr erstmal zu einem Wallfahrtsort auf dem Weg, um einen langjaehrigen Freund zu treffen. Und André stand mit seinem Wohnmobil auf dem selben Parkplatz wie letztes Jahr, als ich vorbeikam…

 

 

 

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