Von den fahrenden Leuten

Auf der Strasse traf ich Heidi.

„Dass man dich auch mal wieder sieht! Lebst du noch?“, rief ich ihr entgegen.

„Ja, klar. Ich war gerade beim Frisoer. Endlich mal wieder ein richtiger Schnitt. Das vorher war ja nichts.“

„Ich dachte, die fahrenden Leute wuerden gehen. Sie sind schon ueber zwei Wochen hier.“

„Ich rede mal mit ihnen. Aber ich bin schon zu spaet. Ich bin eingeladen.“

Am naechsten Morgen traf ich sie im Waschraum.

„Und du bist immer noch da?“

„Ja, ich schaffe es nicht, zu gehen.“

„Ich dachte, du wolltest verreisen.“

„Das wollte ich auch gerne. Aber dann sind da immer wieder Kraefte, die mich dazu bringen, zu bleiben.“

„Na ja, hier hast du jedenfalls deinen Platz. Du kannst bleiben, so lange du willst.“

„Wie schoen.“

„Ich fuehle mich immer noch wie im Urlaub.“

„Da hast du recht.“

„Meine Eltern wollen drei Monate bleiben. Sie suchen jetzt eine Unterkunft fuer diese Zeit. Sie haben in der Schweiz alles aufgegeben und verkauft. Aber vielleicht wollen sie danach wieder in die Schweiz zurueck. Sie haben sich vorher einige Wohnungen fuer alte Leute angeschaut, aber das war alles nichts. Eben sagten sie schon: ‚Vielleicht kaufen wir uns ein Wohnmobil. Dann sind wir frei und unabhaengig.“

„Das ist aber mutig, in dem Alter alles aufzugeben und auf‘s gerade Wohl loszuziehen und zu sehen, wohin es einen treibt.“

„Ja, mit achtzig ist das schon erstaunlich. Aber jetzt fahre ich erst mal zu ihnen.“

Eines Abends, als ich zum Campingplatz kam, stand ein neu aussehender schwarzer Mercedes auf einem Anhaenger vor meiner Tuer. Als ich an den Kindern vorbeikam, sagten sie entgegen sonstiger Gewohnheiten nicht mal guten Tag. Mir wurde das alles etwas komisch. Da hatten sie all die Dinge genommen, die ich im Waschraum hatte liegen lassen. Was kam als naechstes? Mir auch noch den Rest zu nehmen, den ich hatte? Ich fuehlte mich zunehmend unwohl. Als ich mit Raphael darueber sprach, wartete er mit einer Fuelle unguter Geschichten ueber die fahrenden Leute auf.

Hinzukam, dass die Sicherung des Stromkastens tagsueber staendig rausfiel. So circa alle fuenf Minuten. Als ich einen der Jungs sah, der die Sicherung wieder reinmachte, sprach ich ihn darauf an: „Es sind entweder zu viele Geraete angeschlossen oder ein Geraet ist kaputt.“

Spaeter entdeckte ich, dass in einem der Transporter eine weitere Waschmaschine roedelte. Klar, dass das zu viel war. Aber sie liessen sich nicht im geringsten davon beeindrucken.

Am Abend traf ich Henry in der Bar.

„Komm, setz dich. Was willst du trinken? Ich lade dich ein.“

„Ein Tonic Water“.

Ein Schwarzer gesellte sich zu uns.

„Das ist ein Freund von mir. Er ist wie mein Sohn“, stellte ihn mir Henry vor. „Und wie geht es dir?“

„Ach, ich fuehle mich auf dem Campingplatz gerade nicht mehr wohl.“

„Wegen der fahrenden Leute? Ich habe sie gesehen. Sie haben die Genehmigung auf dem Rathaus geholt, als ich meinen Personalausweis abgeholt habe. Es sind keine guten Leute.“

Der Schwarze stimmte ihm bei.

„Sie haben mir lauter Sachen weggenommen, nichts von grossem Wert, aber trotzdem. Seit ueber zwei Jahren habe ich keinerlei Einkuenfte und fuer mich haben diese kleinen Dinge einen grossen Wert. Ausserdem frage ich mich, wo das hinfuehrt.“

„Ich habe schon am Anfang gedacht, ich komme mal bei dir vorbei. Um ihnen zu zeigen, dass du nicht alleine bist.“

„Ich habe mir ueberlegt, morgen zu gehen.“

„Nein, du gehst nicht: Sie gehen. Ich mobilisiere meine Freunde und dann vertreiben wir sie.“

„Nein, ich will keinen Aerger. Lieber gehe ich.“

„Nein, du gehst nicht. Ich komme morgen Mittag zu dir und schaue mir die Sache mal an. Dann sehen wir weiter. Meine Mutter war auch eine von denen. Das habe ich dir schon erzaehlt. Ich kenne sie. Ein paar von ihnen sind o.k., aber andere sind es nicht. Deshalb komme ich besser vorbei.“

„O.k., dann bis morgen um zwoelf sagen wir mal.“

Tatsaechlich wachte ich gerade rechtzeitig bei Raphael auf, um zum verabredeten Zeitpunkt zum Campingplatz zu gehen. Henry sass in der Bar.

„Ist es schon zwoelf Uhr? Ich wollte gerade zu dir gehen.“

„Ja, es ist kurz vor.“

„Ich trinke nur mein Glas aus, dann gehen wir. Ich setze mich nur bei dir hin und schaue.“

„In Ordnung.“

„Es ist die Frage, wie viele Maenner es sind“, meinte er auf dem Weg. „Drei, fuenf oder mehr. Wenn es vier sind, dann ist etwas schon nicht in Ordnung.“

„Ich habe sie nicht gezaehlt, aber ich glaube, es sind mehr als vier Maenner.“

„Sie sind in der Regel alle miteinander verwandt.“

„Und die Kinder stellen lauter bloede Fragen: ‚Wem gehoert dies und wem gehoert das?’“

„Das ist ein Mist.“

„Und: ‚Hast du einen Freund? Bist du verheiratet? Und und und.“

„Das ist, weil die Frauen Angst haben, dass du ihnen die Maenner wegnimmst, wenn du alleine bist.“

„Aber mein Freund war schon da.“

„Es ist einfach, dass sie Angst haben.“

„Und ich habe langsam auch Angst, dass sie mir noch mehr wegnehmen.“

Als wir auf dem Campingplatz ankamen, sassen sie alle draussen an ihrem Campingtisch und begruessten uns.

Henry schaute in meinen Bus.

„Da hast du ja jetzt ein richtiges Zuhause!“

„Genau. Schoen, nicht?“

„Und wir haben wieder einen Winter ueberlebt!“

„Genau so sehe ich das auch. Willst du einen Getreidekaffee?“

„Ja, gerne. Ich setze mich ins Gras.“

„Willst du nichts zum Drunterlegen, einen Teppich oder eine Matte?“

„Nein, ich setze mich am liebsten direkt auf den Boden.“

Er liess die ganze Szenerie ein wenig auf sich wirken.

„Ach, ich glaube, wenn ich die Sache so betrachte, sie sind ganz in Ordnung. Sie haben uns begruesst, das ist schon ein gutes Zeichen. Und wenn sie etwas genommen haben, dann waren es sicher die Kinder zum Spielen. Du darfst einfach nichts draussen liegen lassen. Schau wie sie es machen, was sie draussen lassen. Wenn andere mehr liegen lassen, dann stoert es sie in ihrem aesthetischen Empfinden. Normal gibt man den Kindern Geld. Aber man muss die Eltern vorher fragen. Damit sie einem keine Steine vor die Raeder werfen. Ist es das erste Mal, dass du Kontakt mit den fahrenden Leuten hast?“

„In dieser Form schon. Ich kannte einige da, wo ich vorher war und sie waren auch nett, aber am Ende wollten sie alle Geld. Und ich lebte ohne Geld. Das ging mir auf die Nerven.“

„Das ist nervig mit dem Geld. Ich gebe den Erwachsenen unter ihnen nichts. Nur den Kindern. Aber du kannst unbesorgt sein. Die nehmen dir nichts mehr weg. Aber schau, sie gehen.“

In der Tat fuhr einer der Transporter mit einem der Wohnwagen an eine andere Stelle.

„Sie fahren einer nach dem anderen, sonst blockieren sie den ganzen Verkehr. Nachher treffen sie sich wieder.“

Sie fuhren jedoch nicht weg, auch nicht am naechsten Tag. Sie hatten bloss den Standort innerhalb des Campingplatzes veraendert.

Aus mit der Ruhe

Bloss, als ich einen Tag spaeter von einer kurzen Runde zurueckkam, hoerte ich schon von ausserhalb des Campingplatzes wildes Haemmern und traute meinen Augen nicht, als ich ueber die Hecke schaute und lauter Satellitenschuesseln entdeckte! Als ich durch das Tor trat, traf ich auf eine Gruppe von fahrenden Leuten mit Transportern und Wohnwagen, die gerade im Begriff waren, sich zu installieren. Ich ging auf den Erstbesten zu und meinte:

„Entschuldigen Sie, aber der Campingplatz ist geschlossen.“

„Ist Heidi nicht da?“

„Nein, sie ist verreist.“

„Wir waren auf dem Rathaus und dort gab man uns die Genehmigung, zwei Wochen  zu bleiben. Wir waren gestern und vorgestern schon hier, aber es war keiner da.“

„Also der Campingplatz ist eigentlich geschlossen. So gibt es auch keine Duschen und kein warmes Wasser.“

„Und Heidi?“

„Sie kommt Anfang Maerz wieder.“

Ich dachte, ohne Duschen wuerden sie bald wieder gehen, aber weit gefehlt. Am naechsten Tag stand ihre eigene Waschmaschine im Waschraum und lief hinfort den ganzen Tag. Als ich auch noch Waesche waschen wollte, sprang die Sicherung heraus. Ich durfte bis zum Abend warten bis sie fertig waren, um weiter zu waschen.

Indess kam eine ganze Schar von Kindern auf mich zu.

„Wir haben die Duschen geputzt. Wir wollen im Vorraum spielen. Es war uns jedoch zu dreckig. Wir wollen im Sauberen spielen.“

„Das ist aber grossartig. Da wird sich Heidi aber freuen.“

Spaeter kamen einige Maedchen giggelnd zu mir zum Bus.

„Madame, schauen Sie mal!“

Sie konnten sich nicht mehr einkriegen vor Lachen. Eine davon schlug den Prospekt eines Tierparks mit Fotos von Tieren auf.

„Madame, was machen die da? Machen die Sex?“

Sie giggelten weiter.

Ich wollte mich mit einem „das ist etwas fuer Erwachsene“ rausreden, aber sie blieben standhaft.

 „Ist das Sex, was die machen?“

„Das nennt man wohl so.“

„Die machen Kinder“, fiel einem der aelteren Jungs dazu ein.

„Genau.“

„Und Sie, Madame, machen Sie auch Sex?“

„Entschuldige, aber diese Frage ist indiskret. Die kann ich dir nicht beantworten.“

„Warum?“

„Darum.“

Sie dampften ab.

Im Waschraum kamen die Maedchen wieder auf mich zu.

„Was machen Sie da?“

„Abspuelen.“

„Und was ist das?“

„Spuelmittel.“

„Und das?“

„Was ist das wohl?“ fragte ich in die Runde.

„Ein Topf.“

„Seht Ihr, Ihr koennt die Frage selbst beantworten.“

„Und wem ist das Fahrrad?“

„Meinem Freund.“

„Und das hier?“

„Mir.“

„Und die da drueben?“

„Die sind Heidi.“

„Und diese Couch?“

„Die ist auch Heidi.“

„Und wo wohnst du?“

„Hier im Bus und bei meinem Freund.“

„Und wo ist dein Zuhause?“

„Hier im Bus. Wie Ihr im Wohnwagen wohnt, so wohne ich im Bus.“

„Und wie lange bist du schon hier?“

„Zwei Wochen.“

„Bist du Heidi’s Freundin?“

„Nein, ich passe bloss auf den Campingplatz auf.“

Drei Tage lief alles gut, doch dann begannen schlagartig, meine Sachen zu verschwinden, die ich im Waschraum gelassen hatte: mein kleines geliebtes Flaeschchen Geschirrspuelmittel, das es als Probe im Bioladen gab, mein teurer Topfreiniger (und einer von Heidi gleich mit) und mein geschaetztes Sauerstoffbleichmittel. Mein gefundenes Wollwaschmittel fand ich fast leer und ohne Dosierbecher neben ihrer Waschmaschine und Raphaels Fluessigwaschmittel hatte sich auch dezimiert. Die Waschmaschine lief weiter jeden Tag ohne Unterlass. Und als ich meine Waesche abgehaengt hatte, benutzten sie all meine Waescheklammern und liessen mir nicht eine einzige uebrig.

Einmal kam Christine just in dem Moment vorbei, als ich Raphaels Teppich vor seiner Haustuere ausschuettelte.

„Bist du nicht mehr auf dem Campingplatz?“

„Doch, ich gehe gleich hin. Es sind gerade fahrende Leute dort. Das Rathaus hat ihnen die Genehmigung erteilt, zwei Wochen zu bleiben.“

„Fahrende Leute, das ist nicht lustig. Aber die Gemeinde muss ihnen fuer zwei Wochen einen Platz zur Verfuegung stellen. Das sieht das Gesetz vor. Weiss Heidi davon?“

„Nein, ich habe keine Telefonnummer von ihr.“

„Ich rufe sie an, wenn ich ihre Telefonnummer finde und sage ihr bescheid.“

Dann traf ich einen Harekrishna-Anhaenger, den ich an Sylvester kennen gelernt hatte mit seinem Motorroller auf dem Marktplatz.

„Ich bin jetzt in einem Bus auf dem Campingplatz, aber es sind gerade fahrende Leute dort und ich bin ganz alleine,“ gab ich ihm zu verstehen.

„Ach, die fahrenden Leute sind eigentlich ganz o.k.. Ich hatte viel mit ihnen zu tun. Sie duerfen nur nichts trinken. Wenn sie trinken, dann wird’s heikel.“

Endlich kam Heidi zurueck.

„Hast du gesehen, was passiert ist? Das Rathaus hat den fahrenden Leuten die Genehmigung erteilt, zwei Wochen hier zu bleiben, obwohl der Campingplatz geschlossen ist und du nicht da warst.“

„Ich kann dir gar nicht sagen wie sauer ich bin. Ich habe den Deal, sechs Monate im Jahr Urlaub zu haben und dafuer hier zu wohnen, aber letztes Jahr war es das Gleiche. Am Ende der Saison haben sie mir noch Leute reingesetzt. Ich gehe gleich morgen aufs Rathaus. Mal schauen, was da los ist. Fuer mich ist es jetzt so: die Leute sitzen in meinem Garten. Ich kann meine Hunde nicht mehr rauslassen und ich muss gleich anfangen, mich um alles zu kuemmern. Die Gemeinde haelt sich einfach nicht an die Verabredungen. Die fahrenden Leute kenne ich zum Teil. Einige von ihnen waren schon mal hier. Ich hatte grossen Krach mit ihnen wegen der Hunde. Weil sie ihre Hunde schlecht behandeln. Ich kann es einfach nicht mit ansehen, wenn sie ihre Hunde schlagen. Und ich habe ihnen ganz viele Sachen geliehen und danach war alles kaputt. Mein Fahrrad war nach nur einer Woche kaputt. Zum Glueck habe ich es wieder hingekriegt.“

„Na ja, sie waren eigentlich ganz o.k.. Haben ihre eigene Waschmaschine aufgestellt und den ganzen Tag gewaschen.“

„Sie waschen jeden Tag. Und du solltest mal einen Wohnwagen von innen sehen. Da findest du kein Staubkorn. Und ihre Waegen waschen sie im Sommer jeden Tag. Sie benutzen in einer Woche so viel Chlorreiniger wie ich nicht im ganzen Leben.“

„Was mir nicht gefiel ist, dass sie mir meine ganzen Sachen genommen haben, die ich im Waschraum gelassen habe. Nur Kleinigkeiten, aber trotzdem.“

„Das ist normal. Du bist auf jeden Fall noch hier.“

„Ja, ich habe es genossen, ein Zuhause fuer mich ganz alleine zu haben. Nach Jahren. Da wollte ich gar nicht mehr weg.“

„Und was hast du so gemacht?“

„Ach, nicht viel. Die Zeit ist unglaublich schnell vergangen.“

„Dann sehen wir uns morgen.“

„Dann sehen wir uns morgen.“

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