Buchtipp

Habe da noch etwas Interessantes gefunden auf der Seite www.kritisches-netzwerk.de, die mir auch recht lesenswert erscheint, ein Buch, das zumindest von seinem Inhalt her vielversprechend ist, aber macht Euch selbst ein Bild:

Überdruss im Überfluss. Vom Ende der Konsumkultur

Autor:  Peter Marwitz

Verlag:  UNRAST Verlag (Bücher der Kritik), 48155 Münster – zur Verlagsseite

ISBN-13:  978-3-89771-125-9

1. Auflage Oktober 2013, broschiert, 76 Seiten, 7,80€

Unser gesamtes Wirtschaftssystem fußt darauf, dass wir als Konsument_innen kaufen und verbrauchen, koste es, was es wolle. Unterstützt von Marketing, Reklame und medialer Berieselung wird ein Kreislauf in Gang gehalten, der inzwischen längst an seine Grenzen gekommen ist und droht, unsere Lebensgrundlagen zu vernichten. Ressourcenverschwendung, Umweltzerstörung und Müllberge sind nur einige der Probleme, die mit dem Konsumismus einhergehen.

Peter Marwitz beschreibt die Mechanismen, mit denen Unternehmen den Konsum ankurbeln, darunter Reklame und schleichende Unterwanderung journalistischer Inhalte durch Public Relations, Advertorials und Product Placement. Auch die Rolle der Medien bei der Aufrechterhaltung des schönen Scheins der glitzernden Warenwelt wird näher durchleuchtet und hinterfragt.

Außerdem werden Auswege aus dem Konsumenten-Hamsterrad gezeigt – alternative Konsumformen und nachhaltiges Verhalten, von Reparaturcafés und Tauschringen bis hin zu Transition Towns und Widerstand gegen die Reklamebeschallung durch Adbusting und Culture Jamming.

Denn die Zeit ist reif für ein Umdenken.

Der Autor Peter Marwitz dürfte allen Lesern unserer Seite als Freund, gelegentlicher Beitragsschreiber und Kooperationspartner des Kritischen Netzwerks bekannt sein. Peter Marwitz, Jahrgang 1968, studierte Informatik und Betriebswirtschaft und arbeitet als selbständiger Webdesigner und Buchlayouter in Kiel. Seit 2008 betreibt er den konsum- und reklamekritischen Blog

www.konsumpf.de

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung: Konsum? Kritik?

1. Das grundlegende Problem: unser Waren‘kreislauf‘

Umweltzerstörung bei Rohstoffabbau, Produktion, Vertrieb, Entsorgung

Ressourcenverbrauch

Ausbeutung des Menschen

Politik und Lobbyismus

Abhängigkeit von den Finanzmärkten

Marktmachtzentration

Das KonsumentInnen-Hamsterrad

Anhäufung von Dingen

Verschuldung

Müll und Entsorgung

2. Konzernkritik

Aldi, Lidl & Co.: Wie teuer ‚billig‘ wirklich ist

Nestlé: Abhängigkeit als Prinzip

3. Das Zeitalter des Konsumismus

Eine kurze Geschichte der Konsumkritik

Der eindimensionale Mensch

Haben oder Sein

Die Gesellschaft des Spektakels

‚Der gute Konsument‘

Die (Un-)Kultur des Kommerzes

Geplante Obsoleszenz: Die Wegwerfgesellschaft

Reklame: Lügen und Verführen

Das Zusammenspiel von Medien und Werbung

Fernsehen: Kommerz ist Programm

Public Relations, Product Placement und Advertorials: Gekaufte Wahrheiten

Markenfetischismus: Der markierte Mensch

4. Die KonsumentInnen wachen auf

Politischer,  nachhaltiger, strategischer Konsum: LOHAS & Co.

Konsumverzicht: LOVOS & MinimalistInnen

Vegetarismus & Veganismus

Alternativen zum Kauf- und Wegwerfwahn

Reparaturcafés

Bücherschränke/Give-Boxen/Verschenknetzwerke

Second-Hand-Läden/Flohmärkte

Upcycling

Kleidertauschpartys/Klamottentauschläden

Tauschringe

Komplementäre/regionale Währungen

Car-Sharing/Mitfahrgelegenheiten

Land-Sharing

Couchsurfing

Foodsharing

Containern

Leihen

Genossenschaften/Mitgliederläden/Wirtschaftsgemeinschaften

Transition Towns

Adbusting und Culture Jamming: Widerstand gegen die Warenmaschine

5. Kritik der Kritik

6. Ausblick: Cradle-to-Cradle, Postwachstumsökonomie und mehr

7. Zwölf Faustregeln für einen sinnvolleren Konsum

Literatur

Filme

Artikel

Linktipps

Leseprobe: Einleitung: Konsum? Kritik?

Jeder von uns tut es. Jeden Tag. Selbst im Schlaf. Konsumieren. Sei es, dass die Brieftasche gezückt wird, um mit den neuesten Modetrends zu gehen, oder dass nebenher der Stromzähler für all unsere High-Tech-Geräte durchtickert – in der heutigen Industriegesellschaft ist man automatisch VerbraucherIn, KonsumentIn.

Viele Leute denken gar nicht sonderlich über ihr eigenes Konsumverhalten nach, sondern lassen sich von Moden und Hypes treiben, von Schnäppchenangeboten im Supermarkt oder Reklame in den Medien. Die Werbung verspricht Glück und Zufriedenheit, wenn man nur zum richtigen Produkt greift. Die KonsumentInnen haben deshalb wie selbstverständlich ihre Lieblingsmarken, denen sie vertrauen und folgen.  Sie sind aber auch preissensibel und haben ein bemerkenswert kurzes Gedächtnis, wenn es um die Schattenseiten der glitzernden Warenwelt geht. Ihnen geht es um die schnelle und einfache Befriedigung ihrer (vermeintlichen) Bedürfnisse, darum, etwas für das Ego zu tun und mithilfe zahlreicher industriell hergestellter Massenprodukte die eigene (vermeintliche) Individualität zur Schau zu stellen. Ja, richtig, so etwas nennt man paradox.

Aber es ist auch eine neue Entwicklung zu beobachten: Obwohl die Mehrzahl der KonsumentInnen nach wie vor ignorant ist gegenüber den Folgen des eigenen Kaufverhaltens, stoßen sich immer mehr Menschen daran, wie ihre Produkte hergestellt werden – aufgeschreckt durch die vielen Lebensmittelskandale (von EHEC bis Pferdefleisch), durch kritische Berichte über die Arbeitsbedingungen bei Discountern wie Aldi und Lidl oder die großangelegte Steuervermeidung von Großkonzernen wie Starbucks und IKEA. Die KonsumentInnen wollen wissen, welche oft fatalen Auswirkungen die Herstellung der Dinge hat, mit denen sie sich umgeben, und sie achten vermehrt darauf, dass ihr Konsum einen möglichst geringen sozialen und ökologischen Schaden anrichtet. Der sogenannte ‚bewusste’, ‚kritische’, ‚nachhaltige’ oder ‚politische’ Konsum ist seit einiger Zeit, auch abseits der Öko- oder linken Szene, ein zunehmend beachtetes Thema. Und wie in diesem Wirtschaftssystem üblich, hat sich inzwischen ein eigener Markt dafür herausgebildet mit entsprechend neuen Marken und Trends…

Wieso ist all das nun überhaupt ein Problem? Weshalb muss man Konsum, in dem Ausmaß, wie er heutzutage fast weltweit betrieben wird, kritisch sehen? Es geht ja nicht darum als Spaßbremse und Spielverderber aufzutreten, wenn man die grellbunte Fassade der Werbe- und Markenwelt hinterfragt. Die Vielzahl negativer Auswirkungen, die das hemmungslose Kaufen und Wegwerfen – Kern und Motor der Marktwirtschaft – mit sich bringt, ist jedoch nicht mehr zu übersehen. Zu ihnen gehören beispielsweise die immense Ressourcenverschwendung für Marketingkampagnen für im Prinzip überflüssige Waren. Zu schnell werden neue Produkte durch wieder neue Modelle ersetzt. Es geht auch um Umweltverschmutzung und das Zerstören ganzer Lebensräume für Mensch und Tier, um die wachsende Abhängigkeit der Medien und der Politik von einigen großen Konzernen, um die zunehmende Verschuldung der KonsumentInnen, um die Durchdringung des Alltags mit kommerziellen Inhalten, um den Ausverkauf öffentlicher Güter und Räume und vieles mehr.

In diesem Buch werde ich die grundlegenden Probleme der Konsumfixierung näher betrachten und dabei einen kleinen Überblick überden gegenwärtigen Zustand der Konsumgesellschaft geben. Damit es nicht zu deprimierend wird, werde ich anschließend auch einige Strategien aufzeigen, wie man dem Hamsterrad entkommen kann, wie man sich gegen das Dauerbombardement von Kaufaufforderungen zur Wehr setzen und den Unternehmen die Stirn bieten kann – kurz, welche Möglichkeiten man als KonsumentIn hat, sich dem Wahnsinn zu entziehen.

Eine generelle Anmerkung noch: Natürlich bin ich mir bewusst, dass Konsumkritik nur ein Teil einer grundsätzlichen Systemkritik sein kann und dass veränderte Konsummuster nicht das Allheilmittel für die Probleme dieser Welt sind. Aber für manche Menschen kann das kritische Hinterfragen des eigenen Kaufverhaltens ein Anfang sein, sich Gedanken über den Zustand unserer Gesellschaft zu machen. Konsumkritik bietet die Möglichkeit, ganz konkret im eigenen Alltag ein paar erste Schritte in die richtige Richtung zu gehen, statt mit dem eigenen Geld den politischen Gegner zu füttern.

Leseprobe / Auszug aus Kapitel 1. Das grundlegende Problem: unser Waren›kreislauf‹

Eine Warnung vorweg: Die folgende Schilderung des Wirtschaftssystems in den heutigen Industriestaaten ist nur ein stark vereinfachter, auf wenige wesentliche Punkte reduzierter Überblick, den ich allerdings für hilfreich und sinnvoll halte, um das Thema Konsumkritik nicht im luftleeren Raum zu behandeln. Denn die vielen Probleme, die der (individuelle) übersteigerte Konsum mit sich bringt, fußen vor allem auf dem Waren›kreislauf‹, den wir als Marktwirtschaft kennen und dessen Grundstruktur viele neuralgische Punkte aufweist. Das heißt, uns sollte immer bewusst sein, dass jeder Kauf genau dieses System stärkt und damit auch dessen negative Auswirkungen fördert.

Kennt ihr »The Story of Stuff Project«, diese von der amerikanischen Aktivistin Annie Leonard ins Leben gerufene Initiative, die mit Hilfe von kleinen animierten Filmen über Missstände des Kapitalismus aufklärt und die Menschen zum Umdenken anregt? In ihrem allerersten Clip – eben »The Story of Stuff« (Die Geschichte vom Zeugs) – stellt sie sehr anschaulich dar, wie das Ganze prinzipiell funktioniert.

Wie ist der Wirtschaftskreislauf also aufgebaut? Es beginnt mit der Ressourcengewinnung, dem Abbau der Rohstoffe, die die Grundlage der Produkte bilden. Diese werden dann in die Produktionsstätten transportiert und unter Einsatz von Energie und Arbeitskraft entstehen Waren. Anschließend werden die Waren in den (Einzel-)Handel eingespeist. An dieser Stelle kommen nun die KonsumentInnen ins Spiel –sie kaufen, u. a. animiert durch Medien und Reklame, die Produkte und tragen sie nach Hause, wo sie zu den anderen Produkten wandern, die dort bereits herumliegen. Hat ein Produkt ausgedient, weil es kaputt ist oder die VerbraucherInnen lieber etwas Neues haben möchten, wandert es auf den Müll, in die Verbrennung oder wird (zu einem geringen Teil) recycelt.

So weit, so gut – eigentlich sieht das alles recht nett und durchdacht aus. Und zweifellos hat uns dieses System einiges an Fortschritt, Annehmlichkeiten und Komfort gebracht. Aber zu welchem Preis? Denn entlang der gesamten Wertschöpfungs- und Verbrauchskette tut sich eine Vielzahl von Schwierigkeiten auf:

Umweltzerstörung bei Rohstoffabbau, Produktion, Vertrieb

Wer schon einmal Bilder vom Nigerdelta gesehen hat, in dem Shell seit Jahrzehnten Erdöl fördert, weiß, was der Abbau von Rohstoffen für die Umwelt, für Tiere und Menschen vor Ort, bedeutet: Vergiftete Landschaften, verdreckte Flüsse, erodierte Böden, gerodete Wälder, all dies sind Folgen unserer Jagd nach Ressourcen sowie der industriellen Produktion und Landwirtschaft. Denn auch in den Produktionsstätten fallen Umweltgifte an, für den Gütertransport werden regelmäßig neue Straßen gebaut und Unmengen an Energie verbraucht.

Ressourcenverbrauch

Mit der Produktion und dem Konsum von Waren geht der Verbrauch von Ressourcen einher. Ist dies bei nachwachsenden Rohstoffen nicht notwendigerweise (aber trotzdem oft) ein Problem, so werden für unseren Konsumstil aber auch Unmengen an nicht nachwachsenden Rohstoffen vergeudet. Sei es nun Erdöl für Benzin oder Plastik, Kohle zur Energiegewinnung oder Coltan für Handys & Co. – mittlerweile hat das menschliche Wirtschaften solche Dimensionen angenommen, dass wir mehrere Planeten bräuchten, um die Gier nach Ressourcen zu stillen. Dummerweise haben wir, sofern die Raumfahrt nicht gewaltige Fortschritte macht, nur diesen einen Planeten Erde zur Verfügung. Wegwerfgüter, der Konsum von Dingen, die wir gar nicht wirklich brauchen und ein Übermaß an Verpackung tragen zum unnötigen Verbrauch von begrenzten Ressourcen bei.

Ausbeutung des Menschen

Für die Warenproduktion ist neben Rohstoffen noch eine andere Ressource von Bedeutung – nämlich die Menschen; besser gesagt: ihre Arbeitskraft. Spätestens seit bekannt wurde, dass Markenhersteller wie Nike ihre Kleidung in sogenannten Sweatshops in Asien fertigen lassen, ist die Ausbeutung von Menschen für unsere Konsumgüter im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Die Hersteller weichen auf Fabriken in ärmeren Ländern aus, um Lohnkosten zu sparen und Arbeitsschutzrichtlinien zu umgehen. Aber man muss gar nicht so weit schauen, um vergleichbar unwürdige Zustände zu finden – Discounterketten wie Lidl oder KiK stehen wegen ihres Umgangs mit MitarbeiterInnen ebenfalls seit einigen Jahren im Kreuzfeuer der Kritik. Die Bildung von Betriebsräten wurde verhindert, MitarbeiterInnen überwacht, private Daten über die Beschäftigten gesammelt und die Mindestanforderungen von Siegeln umgangen. Dass es sich nicht um eine neue Entwicklung handelt, bezeugen die Ergebnisse einer Untersuchung über die Ausbeutung politischer Gefangener in der DDR. Bereits in den 70er und 80er Jahren ließ IKEA Möbelteile von Strafgefangenen produzieren, für Quelle und Neckermann wurden Bettwäsche und Fotoapparate hergestellt. […..]

Kauf-nix-Tag / Buy nothing day

Achtung, aufgepasst! Alle Jahre wieder:

Der letzte Samstag im November ist buy nothing day! Zu deutsch Kauf-nix-Tag und in diesem Jahr fällt er auf den nächsten Samstag, den 28. November.

Ein Tag, um richtig bewusst nichts zu kaufen.

Nein, ganz im ernst. Da lebte ich viele Jahre mehr oder weniger freegan, also hauptsächlich von dem, was kostenlos ist und da entdeckte ich erst viele Jahre später, dass es diesen Nichts-Kauf-Tag gibt, der angeblich schon in bis zu 80 Ländern gefeiert wird. Auf jeden Fall gibt es dazu eine deutsche Website mit Namen buynothingday.de, auf der genaueres steht, wie Geschichte, wie es dazu kam, was dahintersteckt usw..

Auf jeden Fall ist noch Zeit, etwas dafür zu organisieren wer daran Interesse hat und sich darauf einzustellen, bewusst an diesem Tag einmal einfach nichts zu kaufen und zu schauen wie sich das anfühlt.

Oder mal in den nächsten Umsonstladen reinzuschauen (nachzuschauen unter umsonstladen.de). Der Kauf-nix-Tag ist in Europa immer am letzten Samstag des Monats November, in den USA am Freitag, der als black friday auch in Europa immer weitere Kreise zieht.

Davon ausgehend stiess ich auch auf eine andere interessante Internetseite: konsumpf.de, ein Forum für kreative Konsumkritik, in dem wiederum ein aufschlussreicher Artikel war, den ich hier in Auszügen wiedergeben möchte:

(…) Materialismus macht krank

Die amerikanischen Psychologen Tim Kasser und Richard M. Ryan haben in einer Vielzahl von Untersuchungen festgestellt, dass Menschen mit sehr materialistischen Werten ein geringeres psychisches und physisches Wohlbefinden aufweisen, als Menschen, denen materialistische Werte weniger wichtig sind. In ihren Studien arbeiten sie mit dem so genannten „Aspiration Index“.  Dieser Fragebogen führt eine Vielzahl verschiedener Ziele auf und bittet die Versuchspersonen anzugeben, welche Ziele wie wichtig für sie sind. Genannt werden u.a. das Bedürfnis nach Sicherheit, nach guten Beziehungen mit anderen Personen, aber eben auch materialistische Werte wie finanzieller Erfolg oder ein hoher Status.

Im Ergebnis zeigte sich, dass diejenigen, für die beispielsweise finanzieller Erfolg ein zentraler Wert war, weniger Selbstverwirklichung und Lebensfreude und mehr depressive Symptome und Ängstlichkeit aufwiesen als Personen, für die gute Beziehungen oder ein gesellschaftlicher Beitrag wichtige Werte waren.

In einer anderen Studie zeigte sich, dass Menschen, die nach Ruhm, Geld und Ansehen streben auch mehr physische Symptome aufwiesen; also häufiger unter Kopfschmerzen, Magenprobleme etc. litten als weniger materialistische Versuchspersonen. Daneben scheint eine stark materialistische Haltung auch die Qualität unserer tagtäglichen Erfahrungen zu verringern, da materialistische Studenten in der Summe weniger positive Emotionen erlebten als Menschen, die sich nicht so viel aus Geld und Besitz machen. Je wichtiger uns materialistische Werte sind, desto geringer ist also unsere Lebensqualität. (…)

Wer hätte das gedacht? Ich glaube, wohl jeder, ausser denen, die dem Materialismus leider verfallen sind. Um wo wir beim Thema Materialismus sind, möchte ich doch über eine Sache schreiben, die mir letztes Jahr, als ich mit dem Fahrrad in Spanien unterwegs war aufgefallen ist. So stellte ich durch ein paar Bekannte, die mich an ihrem Leben teilhaben liessen fest, dass es einen tiefen Graben gibt zwischen materialistischen und nicht-materialistischen Menschen. Man könnte statt nicht-materialistisch auch sagen, eher idealistisch, ideell oder spirituell eingestellten Menschen (Ihr dürft gerne mitdiskutieren). Und dass dieser Graben tief durch die Familien geht und die Menschen –  ja vielleicht sogar die ganze Menschheit – einfach teilt.

Ja, und diese materialistisch eingestellten Menschen machen leider die ganze Welt kaputt! Unseren ganzen schönen Heimatplaneten! Das ist tragisch.

Immer noch im Hippieland

Hier ein schon älterer Eintrag, den ich irrtümlich auf einer falschen Seite veröffentlicht hatte.  Hier nachträglich ein paar Geschichten von Anfang des Jahres…

Einmal nahm mich beim Trampen ein Typ mit, den ich schon kannte und der noch einen weiteren Tramper inklusive Gepaeck aufgabelte.
«Ich komme gerade aus Mexiko zurueck. Es war phantastisch. Die Leute sind unglaublich gastfreundlich. Ich war die ganze Zeit eingeladen. Und die Maya sind noch dort. Sie sind lebendig! »
Er lud uns zu einem Kaffee ein.
«Und die Frauen und Kinder sind sehr schoen. Aber wegen der Armut heiraten sie zum Teil frueh. Es war wirklich alles phantastisch ausser den Einreiseformalitaeten. Und das einzig Negative an den Leuten ist, dass sie die amerikanischen Softdrinks in rauhen Mengen konsumieren. Aber das ist auch alles. »
Er hatte ein Taschenbuch auf den Tisch gelegt, dessen Autor und Titel ich mir nicht merken konnte; er empfahl jedoch unserem Chauffeur, es zu lesen.
« Es geht darin um Alchemie. Und um die Integration der weiblichen Anteile in uns Maennern und die der maennlichen Anteile in den Frauen. In den vielen tausend Jahren des Patriarchats haben die Maenner nicht nur die Frauen, sondern auch die weiblichen Anteile in sich selbst unterdrueckt. Das hat zu zerstoererischem Verhalten gefuehrt. In Zukunft werden mehr die Frauen das Sagen haben, einfach, weil uns Maennern eine gewisse Dimension fehlt, naemlich die, Kinder zu zeugen. Und da die Maenner das damals gesehen haben und sie nicht wussten, dass sie bei der Zeugung zur Haelfte beteiligt sind und nur die Frauen beobachteten, wie ihre Baeuche dicker wurden und Kinder zur Welt kamen, ohne die Maenner direkt zu brauchen, haben sie die Frauen unterdrueckt. Vorher gab es ein Matriarchat. Da wurden Goettinnen verehrt und die Frauen hatten das Sagen. »
Unser Chauffeur schaute, als haette er davon noch nie gehoert.
« Wir sind alle Schueler hier ,» schloss unser Reiseonkel bevor wir uns verabschiedeten.
Bei einem Rundgang traf ich Lisbeth, die mich zu den Bhajans mitgenommen hatte und lud sie zu mir in den Bus ein.
« Ich habe auch mal in einem Bus gelebt. Das war die gluecklichste Zeit meines Lebens », rief sie begeistert. Bei einer Tasse Tee erzaehlte sie eine Geschichte:
« Es waren Menschen in einem Boot unterwegs und ihnen ging das Wasser aus. Sie ueberlegten, was sie tun koennten. Sie beteten zusammen ueber dem Meerwasser, es moege zu Trinkwasser werden und es ist tatsaechlich Trinkwasser geworden. Sie haben es getrunken und ueberlebt. »

Als ich zu meiner Gastgeberin Carmen kam, erzaehlte sie mir die Neuigkeiten des Tages:
« Man hat pink Butterfly in einem der naechsten Doerfer gefunden. Sie hatte keine Hose an und wollte draussen in ihrem Schlafsack uebernachten. Jemand rief die Polizei an und sie wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Ich hatte mir ja echt Sorgen um sie gemacht, nachdem ich sie zu ihr bringen wollte und sie wollte nicht nach Hause gehen. Und dabei hat sie noch meinen Wohnungsschluessel. Jemand hat mir das erzaehlt, weil sie auf facebook einen suchten, der ihren Hund betreut. Und offensichtlich hat sich einer gefunden. »
In dem spirituellen Zentrum trafen die Leute sich oefter, um Hooponopono zu praktizieren.
« Die Methode kommt aus Hawai. Ein Psychiater hat sie als alte schamanische Heilmethode wiederentdeckt und in einem Krankenhaus auf seine Patienten angewandt, nicht, indem er die Leute damit behandelte, sondern indem er die Probleme der Patienten, die auch in ihm vorhanden waren, in sich selbst loeste. So hat er viele Patienten, die zum Teil als sehr schwere Faelle jahrelang in der Klinik waren und als unheilbar galten, geheilt. «
Es gab allerdings auch einen Kritiker unter den Teilnehmern, der meinte: « Hooponopono funktioniert nicht . Wenn jemand die Toilette dreckig hinterlaesst, funktioniert Hooponopono einfach nicht! »
Im spirituellen Zentrum hatten sie mir und Rose Anfang des Jahres angeboten, uns ein Zimmer zu teilen. Ich hatte eine zeitlang darueber nachgedacht und es mangels finanzieller Unterstuetzung nicht angenommen, aber schade fand ich es doch. So ging ich eines Tages zu ihnen und erlaeuterte meine Situation.
Sie wollten mich davon ueberzeugen, das Minimum zu beantragen, dann bekaeme ich die Miete komplett bezahlt, aber ich wusste nicht so recht.
« Freiheit zaehlt fuer mich mehr, als alles Geld der Welt . Und wenn man Geld bekommt, dann ist man nicht mehr frei. Ich habe lange gebraucht, um mich von allem zu befreien und weiss wie es sich anfuehlt, finanziell unterstuetzt zu werden. Es ist fuer mich weniger erstrebenswert. Ich habe im Jahre 2009 ein Jahr lang nahezu vollkommen ohne Geld gelebt und das war immer noch das gluecklichste Jahr meines Lebens.«
« Aber ist fuer dich Geld etwas Schmutziges? »
« Geld ist fuer mich der Widersacher Gottes. »
« Aber man kann mit Geld doch viel Gutes machen. Wenn wir mehr Geld haetten, wuerden wir noch mehr Dinge fuer andere tun. »
« Stimmt schon, das sehe ich auch bei dem, was Ihr tut, aber ich bin glaube ich derzeit nicht bereit, das Minimum zu beantragen und habe soweit ich informiert bin auch gar kein Recht darauf. Man muss fuenf Jahre in Frankreich gelebt haben, um ein Anrecht darauf zu haben oder man arbeitet fuenf Monate. »
« O.k., du kannst hier bleiben und im Schlafsaal schlafen, denn das Zimmer, das frei war ist jetzt besetzt. Und wenn du das Minimum nicht bekommst, dein eigenes Geld wollen wir nicht! »
Also durfte ich im Schlafsaal bleiben und ihnen das geben, was ich wollte.

Einmal traf ich Raphael, als ich in seinem Staedtchen war. Er erzaehlte mir von einem Fuenf-Tages-Trip, den er gerade hinter sich hatte.
« Wir waren in dem Ort, in dem meine Freundin frueher wohnte, um ein paar Sachen von ihr zu holen und in der Zeit hat sich ihr Ex-Freund umgebracht. »
« Weil sie nicht mehr mit ihm zusammen ist? »
« Nein, nicht deshalb. Er war wohl krank, Depressionen. Und das schon sehr lange. Wir haben bei seiner Ex-Frau gewohnt, die vollkommen aus dem Haeuschen war. Er hat sich unweit der Stadt erschossen. Und die Waffe hat er von dort geholt, wo meine Freundin vorher gewohnt hat. Und ich habe die Leiche auf ein Foto hin verifizeirt, das ich drei Stunden vorher gesehen habe. “
« Du hast die Leiche verifiziert, obwohl du ihn gar nie gesehen hast? »
« Ja, die Frauen waren beide zu schlecht beieinander, die haetten das nicht machen koennen. Und ich war zufaellig dort, um einen Abschiedsbrief abzugeben, den wir bei ihm in der Wohnung gefunden hatten. Da haben sie mich gefragt, ob ich das machen koennte, sonst haetten sie jemand von der Familie beauftragen muessen und es haette ewig lange gedauert. Da konnte ich nicht nein sagen. »

Bei einem Ausflug in die Stadt stiess ich auf eine aeltere Dame, die unzaehlige Tauben um sich herumschwirren hatte.
« Es ist verboten sie zu fuettern, aber ich tue es trotzdem. »
Sie hatte richtiges Vogelfutter in ihrer Tasche versteckt, nahm ein wenig davon in die Hand, auf der sich drei Tauben versammelten, um ihre Hand leerzufressen.
«Ich habe vor sechs Jahren meinen Mann verloren. Jetzt habe ich niemanden, der auf mich wartet. Nachher treffe ich meinen Sohn. Ich bin 82. Ich habe mir die Haare kurz geschnitten, deshalb habe ich eine Muetze auf; damit man es nicht sieht. Ich fuettere die Tauben, auch wenn manche Leute es nicht wollen. Sie haben schliesslich Hunger. Aber man kann mit Gefaengnis bestraft werden. »

Auf dem Rueckweg sah ich eine huebsche kleine weisse Ratte auf einer Wiese mir entgegen laufen. Sie kam gleich zu mir, als ich stehenblieb und schaute, ob sich mein Schuh essen laesst. Ein Mann kam in die Naehe.
« Gehoert die Ratte Ihnen? » fragte ich ihn.
« Nein, ich habe nur dort eine Katze gesehen und so befinde ich mich zwischen Katze und Ratte. Es ist aber bestimmt keine wilde Ratte. Die sind normal nicht weiss. »
« Genau. Ich glaube auch, dass es eine domestizierte Ratte ist. So weiss wie sie ist und weil sie gleich zu mir kam. »
Inzwischen entfernte sich die Ratte und er lief ihr hinterher. Und ich dumpsterte eine ganze Menge in den ganzen Supermaerkten, die ich kannte bevor ich in einem Sportstadion duschte, um mir die Haare zu waschen. Es gab dort sogar einen Foen!

Im spirituellen Zentrum kamen ab und an interessante Leute vorbei. Eine davon hatte gerade eine Weltreise hinter sich, hat zwanzig Jahre in England gelebt und fuhr ein italienisches Gefaehrt auf drei Raedern. Ein anderer war Sohn irakischer Eltern.
« Ich bin an einem Vortex geboren im Irak vor einer Hoehle. Mein Vater war politischer Fluechtling, da er links und gegen Saddam Hussein war. Er war in vielen europaeischen Laendern im Exil. Ich mache Yoga und habe uebersinnliche Faehigkeiten. Und hier spuere ich eine Praesenz, die nicht positiv ist. Ich traeumte die ganze Nacht von Reptoiden. Ich sah ihre Augen, die zu Schlitzen wurden. Die Reptoiden haben nur fuenf Chakren. Ihnen fehlt das Herz und das Stirnchakra. Sie haben auch kein hoeheres Selbst. Sie haben gegen Gott rebelliert. Deshalb hat man ihnen diese Chakren genommen. Und deshalb sind sie neidisch auf uns und wollen uns Boeses. Die Liebe haben wir ihnen voraus. »

Von Reptoiden und Annunaki hatte es noch ein anderer Hippielandbewohner, den ich auf dem Markt traf. Er wiederholte drei Mal mit ekelerregender Mine:
« Sie ernaehren sich von Menschenblut. » Und: « Die Queen ist noch nicht einmal die Schlimmste. Ihr Mann ist zehn Mal schlimmer. » Eine Englaenderin meinte daraufhin: „Pass auf, ueber was du hier auf dem Markt sprichst. Es gibt ganz viele Leute, die sich hier mit einem unterhalten und danach Bericht erstatten, sogenannte Informanten – und die nettesten sind die Schlimmsten.“

Danach traf ich Jocelyne, die ich schon ueber ein Jahr nicht mehr gesehen hatte.
« Wir schoen, dich zu sehen! » empfing sie mich. « Ich habe letzte Woche von dir getraeumt. Du bist zu mir gekommen »
Von ihr erfuhr ich, dass es einen Umsonstladen in dem Dorf gab, in dem sie jetzt wohnte.
« Ich fahre vielleicht morgen in meine Heimat. Ich habe dort ein Haus zu Mieten angeboten bekommen und ich wuerde gerne umziehen. »

Im spirituellen Zentrum wurde es mir zu bunt. Der Ex-Freund einer Bewohnerin war gekommen und sie stritten so lautstark, dass ich keine Ruhe mehr fand. Es war Zeit zu gehen. Ich schaute bei Raphael vorbei.
« Taeglich sterben zig Arten aus », meinte seine Freundin im Gespraech.
« Es ist die Liebe, die die Welt retten wird », schob Raphael hinterher.
„Ich wuerde meinen Campingbus gerne zu einem gemeinschaftlichen Bus machen“, fing ich an.
Sie war begeistert.
„Oh ja, ich wollte immer ein Wohnmobil haben.“
„Wir koennten so was wie einen Verein gruenden dafuer.“
Ich bot ihr am naechsten Tag an, meinen Bus zu benutzen, denn ich hatte gerade Lust, ohne ihn zu verreisen.
« Du kreierst die Teilung! » fuhr mich Raphael an. « Du willst uns auseinanderbringen!  Ich will, dass sie hier wohnt und nicht woanders.»
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Unter diesen Umstaenden wollte ich den Bus nun nicht mehr verleihen. Am Ende waere ich noch die Schuldige fuer die Trennung gewesen. Da fuhr ich lieber zu Jocelyne, wo sie nun schon von meinem Besuch getraeumt hatte. Sowieso hatte ich Sachen, die ich im Umsonstladen lassen wollte. Er war zwar normal nur Sonntags geoeffnet, aber die Betreiber des « nicht-kommerziellen Hauses » zeigten mir ihn trotzdem.
Jocelyne freute sich ueber mein Kommen.
« Ich wuerde gerne verreisen, um mir das Haus anzuschauen, das mir angeboten wurde. Seit sechs Monaten finde ich niemanden, der auf die ganzen Tiere aufpasst. Aber ich weiss nicht, wann ich zurueckkomme. Ich habe kein Geld fuer die Rueckfahrt. »
So blieb ich zum Haushueten trotz der Unklarheit wie lange es sein wuerde und sie fuhr am naechsten Tag weg. Inzwischen hatte sie sechs Katzen und einen Hund. Der andere war vor Kurzem im nahen Bach ertrunken.
Bevor Jocelyne ging, stellte sie mir noch ein nettes Paerchen aus dem Dorf vor und einen Tag nach ihrer Abreise traf ich eine Freundin von ihr, die sich in ihrer Abwesenheit um die Katzen gekuemmert haette, aber nicht um den Hund.
« Jocelyne hat angerufen. Der Typ, der ihr das Haus vermieten wollte, hat sie nicht abgeholt. Er will das Haus jetzt verkaufen. Sie ist ganz umsonst gefahren. Und ihre Mutter wurde operiert und ist gar nicht nett zu Jocelyne. »
Den naechsten Sonntag verbrachte ich am Gratisladen. Ich setzte mich raus in die Sonne und surfte mit meinem ipad im Internet. Aber es kam niemand, um den Laden zu besuchen.
Stattdessen kam am naechsten Tag ein Typ bei mir vorbei, vor dem man mich gewarnt hatte. Ich hatte ihn vor langer Zeit bei Jocelyne kennengelernt. Er lebte in einem Wohnwagen auf einem Grundstueck, auf dem noch andere Menschen wohnen, die ich fluechtig kannte. Von ihnen und anderen Leuten wusste ich, dass er sogar gegenueber Frauen gewalttaetig werden konnte. Er wollte duschen und als er die Badewanne sah, nahm er ein Bad.
« Hast du nicht ein Decke? Ich moechte mich ein wenig ausruhen. Ich fahre dann spaeter zu mir. Nur eins, zwei Stunden. »
Ich gab ihm eine Decke, aber er nahm sich drei und sogar meinen Schlafsack. Als ich ihm, als er aufwachte bedeutete, ich braeuchte meinen Schlafsack, warf er ihn mir auf den Boden. Ich wartete Stunden bis er wieder aufwachte, denn ich wollte ihn nicht bei mir uebernachten lassen und andererseits auch nicht wecken. Mir fehlte absolut das Vertrauen. Noch dazu hatte ich Kopfschmerzen wohl von den Zigaretten, die er geraucht hatte. Er machte ein kleines Theater, als ich ihn um zwei Uhr nachts bat zu gehen, wo er doch keine Heizung in seinem Schrottransporter hatte, aber danach hatte ich meine Ruhe. Mit ihm in der Wohnung haette ich die ganze Nacht kein Auge zugetan…

Endlich in Spanien

Schliesslich trampte ich weiter. Mich nahm gleich ein Tunesier mit. Danach wartete ich etwas länger bis mich eine Spanierin aufgabelte. Sie hatte drei kleine Kinder auf der Rückbank sitzen, die sie betreute. Sie lud mich gleich zu einem fürstlichen Frühstück ein, mit Tee, Toast, Butter und Marmelade! Dabei erfuhr ich, dass sie den Zweijährigen schon beigebracht hatte, sich ganz ruhig miteinander zu beschäftigen und zu spielen. Ich war baff, dass ich all die Zeit, die ich dort war, kein einziges Geschrei hörte.

Als ich weiterfuhr, gelangte ich in eine kleine Stadt, in der ich mir die Kirche aus dem 12. Jahrhundert anschaute. Ein junger Pfarrer kam mir durch die Bänke entgegen und gab mir die Hand. Wir begannen, uns zu unterhalten. Er lächelte immer wieder, wenn er über Gott sprach. „Gott ist Liebe“, sagte er. „Wir Pfarrer in Frankreich verdienen wenig, nur 500 bis 600 Euro, aber das reicht schon.“

„Ich finde es gut wie das System hier ist, denn in anderen Ländern verdienen Pfarrer recht viel und somit ist es oft das Auskommen, das sie dazu bewegt, Pfarrer zu werden. Hier ist es wirklich der Glaube.“

„Ich bereite mich jetzt schon auf nächsten Sonntag auf die Messe vor. Um zu verinnerlichen worum es geht. “

„Ich kann ihnen das Evangelium von Maria Magdalena empfehlen,“ warf ich ein.

„Ja, es gibt viele Evangelien, auch von Thomas, von Philippus…“.

„Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen daraus vorlesen.“

„O.k.“

„Aber hier in der Kirche ist es etwas schattig.“ Es war schlicht und einfach zu kalt.

„Gehen wir raus“.

Wir setzten uns vor das Pfarramt und ich las ihm das Marienevangelium (http://indernachfolge.wordpress.com/2012/06/23/der-evangelium-der-maria-magdalena-von-jean-yves-leloup/) von vorne bis hinten vor, das ich in einer Kopie dabei hatte. Danach lud er mich zu Tee und Keksen ins Pfarrammt ein und zitierte mir sogar Sachen, die ich ihm gerade vorgelesen hatte. Er war ein Phänomen.

„Was mich immer erstaunt: in der Kirche sieht man immer nur alte Leute ausser in grösseren Städten vielleicht noch Studenten in der Studentengemeinde,“ liess ich verlauten.

„Wir haben zwei Generationen verloren. Und wenn die Kinder nicht die Basis vermittelt bekommen, wird es für uns später schwierig. Aber wir haben einige Menschen, die sich als Erwachsene taufen lassen.“ Er machte ein Gesicht, als wäre er sehr betrübt darüber.

„Ich finde das gut so. Es ist für mich so, wie es sein sollte. Die ersten Christen haben sich auch als Erwachsene taufen lassen. Sie haben sich aus freien Stücken dazu entschieden. Jesus wurde auch erst mit dreissig getauft. “

Er sprach dann sogar von den indischen Veden, die er offenbar kannte; ein wirklich erstaunlicher Pfarrer. Irgendwann kam dann jedoch die Zeit zu gehen und ich trampte weiter. In einem Dorf, in dem man mich absetzte kamen dunkle Wolken auf und ich entschied, zu bleiben. Ein älterer Herr in einem schicken Auto sprach mich auf dem Dorfplatz an. Ich erzählte von meinem Leben, dass ich heute schon zum Frühstück und zum Tee eingeladen wurde, dass ich 2009 ein Jahr lang ohne Geld lebte und jetzt mit ziemlich wenig. Er war ganz begeistert von allem. Danach sah ich wie jemand sein Wohnmobil milimetergenau vor seinem Haus parkte und sprach ihn an.

„Ich habe auch einen Campingbus. Ich lebe darin. Aber jetzt bin ich ohne unterwegs.“

„Und wo schläfst du heute?“

„Weiss ich nicht.“

„Du kannst bei mir schlafen. Meine Kinder sind nicht da. Komm rein. Ich habe noch ein paar Dinge zu tun. Fühl dich wie zuhause.  Mein Wohnmobil parke ich so nah am Tor damit mein Hund nicht rausspringt. Er springt nämlich jetzt über das Tor.“

Er war derjenige, der sich um die Grünflächen kümmert, deren Schönheit mir gleich aufgefallen war. Er machte uns was Leckeres zu Essen und ich hatte ein ganzes Kinderzimmer für mich alleine. Ins Internet durfte ich auch noch. Am nächsten Tag ging er auf die Arbeit und lud mich ein, noch länger zu bleiben, wenn ich gerne wollte und wenn nicht, einfach die Tür zuzumachen, wenn ich gehe. Was für ein Vertrauen! Ich entschied mich, zu gehen und hatte unglaubliches Glück: an dem Dorfplatz in dem winzigen Örtchen fuhren die ersten, die anhielten bis nach Spanien, genau dahin, wo ich eine Gemeinschaft von Leuten kannte! Ich konnte es kaum glauben, denn es war noch eine ganz schön lange Strecke.

Als ich bei der Gemeinschaft ankam, winkte mir einer der Älteren mit den Worten „I know you“ entgegen. „Immer noch auf dem gleichen Weg?“ schob er hinterher, nachdem er fertig telefoniert hatte.

„So you are homeless?“ sagte er tatsächlich, nachdem ich ihm von meinem Campingbus erzählt hatte. (Wo man genau das doch niemals einen Menschen ohne Zuhause fragen sollte).

„No, I’m homeful because I’m everywhere at home.“

Dann kam glücklicherweise Sarah, die ich gerne mochte und wir unterhielten uns den ganzen Abend. Aber mit ihnen oben im Zimmer schlafen wollte ich doch nicht. Es schliefen schon zwei Frauen darin und war mir eine Nummer zu heimelich. Aber auch im Zelt schlief ich nicht sehr gut. Am nächsten Tag sprach ich sie darauf an, dass ich mich wundere, dass sie ab und zu Fleisch essen. Was sie darauf antwortete, traf mich in Mark und Bein: „Man muss bei sich selbst anfangen…“

Immer, wenn ich irgendwas zu irgendwem sagte, was ich mich früher nie zu sagen getraut hätte, kam diese Antwort. Nicht sehr motivierend. Ich half in der Küche und beim Mandelmahlen, aber es kam gleich der Boss und meinte, es müsse schnell gehen, sie hätten es eilig. So verlagerte ich mich auf’s Geschirr spülen und sauber machen, denn unter Druck und Stress blockiere ich vollkommen. Wenn sie es eilig haben, dann mache ich lieber was anderes… Ich bin einfach nicht von der schnellen Sorte. Am nachmittag spazierte ich bei herrlichem Wetter durch die phantastisch schöne Gegend und am Abend hatte ich ein gutes Gespräch mit einer anderen Deutschen. Sie sagte: „Bei uns geht es darum, sich selbst ganz hinzugeben, seine Individualität ganz aufzugeben.“

Hm, klang ganz schön schwer. Sarah lud mich ein, dazubleiben. „Du musst nur bei unseren Treffen dabei sein. Die sind um sechs Uhr morgens und um sechs Uhr abends.“ Um fünf Uhr aufzustehen konnte ich mir allerdings zum derzeitigen Zeitpunkt überhaupt nicht vorstellen. Und so ging ich nach zwei Nächten wieder. Die zweite Nacht schlief ich übrigens auf der Couch. Als Entschuldigung meinte ich, es wäre nach dem Gespräch schon so spät gewesen und idass ich keine der andern aufwecken wollte. Insgesamt gedachte ich, lieber ein wenig auf dem Jakobsweg zu laufen. Sarah meinte zum Abschied: „Du kannst immer wiederkommen, auch wenn Du Not im Herzen hast und nicht unbedingt wegen der Gemeinschaft.“ Und ein Israeli, der mich auch schon von früher kannte, lud mich ein, zu ihrem nahegelegenen Ableger zu kommen. „Wenn Du länger bleiben und mitarbeiten willst…“

Neuere Internetseite: foodsharing.de

Im Dezember letzten Jahres ging eine neue Internetseite online, die Freeganer und Freeganerinnen vielleicht interessieren koennte: foodsharing.de. Hier koennen bestimmte Lebensmittel, die man gedumpstert oder sonstwie uebrig hat, anderen angeboten werden. Man kann sich auch verabreden, um gemeinsam zu Essen… Praktisch koennen die Angebote nach Staedten geordnet rausgesucht werden. In der Praxis ist zu sehen, wie es laeuft. Kann mir vorstellen, dass sich dadurch Kontakte zwischen Dumpsterern ergeben, die sich immer wieder austauschen. Das Problem werden wohl generell die weiten Wege in den Grosstaedten sein, die sich aufgrund eventueller Fahrtkosten wegen ein paar Kleinigkeiten nicht lohnen, denn wie ich sehe werden oft wirklich überwiegend solche angeboten. Ueberrascht hat mich allerdings der hohe Mitgliedsbeitrag von 60 Euro beim Verein, der ist weniger freegan. 60 Euro dafür, Sachen umsonst zu tauschen oder zu verteilen, na ja. Mir ist es ohne Internet sowieso noch lieber, Freunde, an die man gedumpsterte Sachen weitergeben möchte findet man doch immer.

Wer es ohne Mitgliedsbeiträge haben will, derfindet nicht essbare Sachen, die weggegeben werden unter http://alles-und-umsonst.de

Aktuell bin ich übrigens an einem Ort in good old germany, an dem auf einem Tisch in einem ganzen Häuserblock gedumpsterte Fressalien oder auch andere Sachen zum Abgeben einfach hingelegt werden und andere kommen vorbei und nehmen, was sie haben wollen mit. Finde ich super, denn so kann ich meine eigenen Sachen, die ich zu viel habe loswerden und finde anderes, das ich selbst nicht gefunden habe vor. Oder ich brauche erst gar nicht selbst loszugehen, weil genug zu Essen da ist. Äusserst praktisch…

Wieder unterwegs…

Durch glueckliche Fuegung hatte ich einen Platz gefunden, auf dem ich meinen Campingbus lassen konnte, denn mich draengte es dazu, mal wieder per Anhalter zu verreisen. Der erste, der mich mitnahm, hatte ein Fernglas auf der Ablage liegen.
« Ich liebe Voegel. Aber was mich hier nervt, ist die Landwirtschaft. Diese immensen Felder. Sehen Sie diese Metalldinger da?”
“Ja, ich habe sie hier in der Gegend zum ersten mal gesehen. “
“Sie sind zum Bewaessern. Furchtbare Dinger. Denn die Felder muessen eine bestimmte Groesse haben, damit man sie benutzen kann. Deshalb faellen sie die Baeume und legen die Felder zusammen. Und ohne Baeume gibt es keine Voegel mehr. Kein Leben.”
Wir naeherten uns einem gelben Rapsfeld.
“Wie schoen”, entfuhr es mir.
“Raps ist das Schlimmste. Da werden die meisten Pestizide eingesetzt. Dort drueben sind Baeume, die ich gepflanzt habe. Und fuer jede Baumreihe, die ich gepflanzt habe, wird anderswo eine Reihe gefaellt. Vor allem alte Baeume, zweihundert Jahre alt. Die ganzen Tiere, die dabei sterben. Es ist vollkommen unverstaendlich. So ein alter Baum erhaelt die Artenvielfalt und ist doch so viel wertvoller als ein junger.”
“Das ist alles nur wegen dem Geld. Gaebe es kein Geld, wuerden sie die alten Baeume nicht faellen.”
“Genau, wegen Geld tun sie alles. Ich hasse Geld. Wirklich! Es wird Zeit, dass sich etwas aendert.”
“Ich dachte, 2013 wuerde sich alles aendern.”
“Das habe ich auch gedacht. Aber es hat nicht gestimmt. Wir brauchen eine Revolution! Aber schon de Gaulle hat gesagt, die Franzosen sind zu bequem, um auf die Strasse zu gehen. Es geht nicht um mich, aber um meine Kinder. Mein Leben ist vorbei.”
Wir waren an der Autobahnauffahrt angekommen.
“Ich hoffe, ich sehe Sie wieder!”
Es gab keine Autos auf dieser Auffahrt, aber es standen zwei LKW’s vor der Mautstelle und einer der beiden nahm mich mit bis zur naechstgroesseren Stadt, von wo aus ich gut weitertrampen konnte. Am nachmittag erreichte ich eine Metropole und lief durch die Stadt bis mich ein junger Typ ansprach.
“Du bist mir aufgefallen; wie du durch die Strasse laeufst ist so leicht. Und ich fuehle mich neben dir wie transformiert. Wie ein Kind. Ohne zu denken. Das ist nicht oft, dass man so jemanden trifft. Ich wohne achtzig Kilometer von hier und muss langsam zurueckfahren. Manchmal mache ich eine Tour mit dem Fahrrad. Dann fuehle ich mich frei. Ich werde dich nicht vergessen.”
Als ich weiterlief wurde ich regelrecht in einen Park gefuehrt, in dem eine Gruppe von Studenten zusammen musizierten. Es war eine wunderschoene Musik mit Gesang in einer mir unbekannten Sprache. Ich setzte mich ein Stueck weiter ins Gras. Irgendwann tippte ich auf griechisch. Als einer der Studenten bei mir vorbeilief, sprach ich ihn an.
“Es ist griechische Musik. Ich bin allerdings Brasilianer und in Franzoesisch Guayana aufgewachsen. Ich studiere seit fuenf Jahren hier. Mein Mitbewohner kommt aus Zypern, deshalb bin ich hier.”
“Ich genoss die Musik sehr. Sie ist so schoen. Und man hoert so selten eine ganze Gruppe in der Oeffentlichkeit spielen. Kostenlos meine ich.”
Als er das zweite Mal vorbeikam, fragte er mich nach meinem Leben und ich erzaehlte ein wenig.
“Und was machst du jetzt?”
“Ich war gerade dabei zu ueberlegen, ob ich zu einem ehemals besetzten Haus gehe, einer Kuenstlerfabrik, in der ich schon Mal war, aber es ist etwas weit weg.”
Ein Freund rief ihn an und lud ihn zu sich ein.
“Ich habe aber keine Lust, so weit zu ihm zu laufen,” meinte er.
Ich ging tatsaechlich schauen, ob ich vielleicht sogar mit dem Bus zur Kuenstlerfabrik fahre, aber ich entschied mich dagegen. Als ich wieder zurueck zum Park kam, traf ich den Brasilianer, der gerade am Gehen war.
“Ich bin zurueckgekommen; ich dachte, dass es besser waere, hier im Park zu uebernachten.”
“Du kannst bei mir schlafen. Ich hatte eh keine Lust, alleine nach Hause zu laufen. Ich wohne nicht weit von hier.”
“Oh fein!” Ich freute mich sehr.
“Ich studiere Musik hier. Die Stadt mag ich sehr. Es ist angenehm, hier zu wohnen. Und durch meinen Mitbewohner bin ich an die Gruppe gekommen und wir machen nun seit einigen Jahren Musik zusammen.”
Sein Mitbewohner empfing uns mit der Nachricht, dass gleich noch drei Freundinnen vorbeikommen zum Schlafen.
“Sie haben die letzte Metro verpasst.”
Es kamen tatsaechlich noch drei junge Maedchen, waehrend ich am Laptop des Brasilianers im Internet surfte. Ich schlief recht gut auf dem Sofa. Am Morgen klaerte mich der Mitbewohner ueber die Musik auf.
“Sie kommt aus dem unteren Volk und besingt Drogen, das Gefaengnis und natuerlich die Liebe. Oft unglueckliche Liebe, die nicht erwidert wird. Die Musik ist schon sehr alt. Die Urspruenge stammen aus dem 18. Jahrhundert und die Texte vom Anfang des 20. Jahrhunderts.”
Spaeter kamen die griechischen Maedchen dazu. Zwei davon studierten hier, die dritte war zu Besuch.
“Wir wohnen weit draussen im Studentenwohnheim in winzigen Zimmern. Und weil wir die Metro verpasst hatten, schliefen wir hier.”
Nach dem Fruehstueck packte ich meine Sachen zusammen, um zu gehen. Beide Bewohner luden mich ein, jederzeit wiederzukommen. Ich lief ein ganze Weile durch die Stadt, bis ich anfing zu Trampen. Einer der Fahrer lud mich am spaeten nachmittag ein, bei ihm zu uebernachten.
“Ich nehme oft Tramper mit und biete ihnen an, bei mir zu uebernachten. Schauen Sie es sich an.”
Er zeigte auf den Garten.
“Es ist schoen, aber ich habe kein Zelt dabei”, gestand ich ihm.
“Ich kann Ihnen eines geben. Das koennen sie behalten.”
“Wie toll! Ich dachte gerade heute, dass es ein Fehler war, mein Zelt nicht mitgenommen zu haben.”
Ich bekam sogar noch eine Decke und eine phantastisch dicke Unterlegmatte geliehen. Wir assen auf der Terrasse mit Blick zum Sonnenuntergang und unterhielten uns ueber Gott und die Welt.
“Es gibt ein Sprichwort, das besagt: Gehst du einen Schritt auf Gott zu, dann kommt er dir drei Schritte entgegen und suchst du ihn wirklich, dann kommt er dir entgegen gerannt,” sagte er.
Ich schlief wunderbar und am naechsten Tag nach dem Fruehstueck zog ich weiter. Mein Weg fuehrte mich an einem Wallfahrtsort vorbei, wo mich mein hollaendischer Fahrer an einem Supermarkt absetzte. Dort sah ich gleich das Wohnmobil von meinem alten Freund André auf dem Parkplatz stehen. Er kam mir sofort entgegen, denn er hatte mich durchs Fenster gesehen. Die Freude war gross, auf beiden Seiten. Er lud mich natuerlich ein, bei ihm im Wohnmobil zu uebernachten und wir assen von seinem gedumpsterten Sachen.
“Ich gebe jetzt nicht mehr den einzelnen Leuten, was ich zu viel habe, sondern den Schwestern”, liess er mich wissen. Und er erzaehlte mir, wie er in Tschechien war bei einer Freundin von ihm, in Rumaenien bei den Zigeunern und in Spanien in der Wohnung einer belgischen Freundin, die er spaeter in ihrer Heimat besuchte.
“Sie wohnte in einem Schloss! Die ganze Strasse gehoert ihrer Familie. Aber die Zeit, die ich mit ihr verbrachte war die Hoelle ! Und seit ich mit einer Rumaenierin zusammen bin, will keiner mehr etwas von mir wissen. Die Tschechin ruft nicht mehr an und die Belgierin sagte am Telefon nur: ‘Pass auf dich auf!’ So habe ich keine Freunde mehr ausser dir. Dabei habe ich mir vorher gesagt: ‘Niemals wuerde ich mit einer Rumaenierin zusammen sein!’
“Sage nie nie.”
Er erzaehlte noch, wo er sonst noch ueberall rumgefahren war.
“Ich habe jetzt 330 000 Kilometer auf dem Tacho. Ein Jahr lang kam ich nicht hierher. Ich hatte die Handwerker bei mir zu hause. Aber ich wohne nicht in meinem Haus. Ich wohne im Wohnwagen. Ich bin verloren. Ich bin verrueckt.”
“Nicht schlimm,” erwiderte ich spontan.
Am naechsten Tag lief ich mitsamt Rucksack eine Radelstrecke entlang. Ein junger Typ baggerte mich an und ich lud ihn ein, mit mir zu laufen.
“Ich arbeite in einem Hotel in der Kueche. Morgens fuenf Stunden und abends fuenf Stunden. Macht zehn Stunden am Tag. Und ich habe nicht regelmaessig frei. Manchmal arbeite ich acht Tage hintereinander. Ich verdiene 1500 Euro. Ich bin einunddreissig. Und ich kann froh sein, wenn ich einmal im Jahr meine Eltern besuchen kann, denn hier wohnen meine Adoptiveltern. Aber ihnen darf ich nichts davon erzaehlen, wenn ich zu meinen Eltern fahre. Sonst habe ich ein Gespraech von vier Stunden. Den einen darf ich nichts von den anderen erzaehlen, sonst sind sie eifersuechtig. Aber jetzt sind wir genug gelaufen. Wollen wir nicht umdrehen?“
„Wenn du willst. Fuer mich war es gar nichts. Ich laufe jeden Tag zwei Stunden. Auf meiner letzten Arbeitsstelle, die ich hatte, sagte mir der Arzt bei der Einstellung: ‚Sie koennen arbeiten, aber Sie muessen etwas zum Ausgleich tun. ‚Ich ging am Anfang oefters joggen, aber irgendwann habe ich das vernachlaessigt. Und schliesslich wurde ich nach mehreren Jahren Arbeit so krank, dass ich gar nicht mehr arbeiten konnte. Und jetzt tue ich das, was ich schon damals haette tun sollen: Ausgleichen; in dem ich jeden Tag in der Natur spazieren gehe. Ich erzaehle Dir das, der du so viel juenger bist, damit du nicht den gleichen Fehler machst… »
Und fuer mich war es, als waere ich genau am selben Punkt wie vor viereinhalb Jahren…

Vor und nach dem Weltuntergang

Es sind mehrere Monate vergangen, in denen sich die Ereignisse ueberschlugen und angesichts einer nur kleinen Leserschaft dieses Blogs gedachte ich, meine Lebensbeschreibungen komplett wegzulassen, aber nach all der Zeit der Pause fehlt mir die Weitergabe all dessen, was passiert ist doch. So moechte ich diesmal nur grob zusammenfassen, was so in den letzten Monaten passiert ist.

Ich trampte damals weiter Richtung Berge und mich nahm ein junger Italiener in einem kleinen Wohnmobil mit und lud mich ein, mit ihm zu kommen.

„Ich fahre zu einem Haus von Freunden, die in Thailand sind. Es ist ein Steinhaus im Wald, aber es gibt eine selbstgebaute Huette, in der du bleiben kannst…“

Ich blieb mehrere Tage in diesem Lehmhaus eine halbe Stunde Fussmarsch von der naechsten Strasse entfernt. Ich hatte fast nichts zu Essen mitgenommen, aber er versorgte mich und ausserdem gab es gerade ueberall Maronen, die die ein oder andere Mahlzeit ersetzten. Es regnete leider recht oft und durch die vielen Fenster konnte ich nicht sehr lange schlafen, aber trotzdem war ein lange gehegter Traum, in einem Lehmhaus zu wohnen, in Erfuellung gegangen.

Nach einigen Tagen zog ich weiter in ein anderes Tal, schlief mal in einer Jurte und wurde dann mitgenommen auf das Abschiedsfest einer Karavane von Leuten, die in Campingbussen zusammen unterwegs waren, um den Winter in Spanien zu verbringen. Ich blieb kurzerhand ein paar Tage bei ihnen in ihrem Gaestezelt, das sogar mit einem grossen Ofen versehen war. Sie hatten fuer zwei Monate ein Grundstueck an einem Fluss zur Verfuegung gestellt bekommen und dort zwei Bambuswaegen selbst gebaut, in denen Leute schliefen. Es war alles sehr alternativ und naturverbunden, aber ich wurde mit den Menschen nicht so richtig warm und so wusste ich, dass ich sicher nicht mit ihnen nach Spanien ziehen wuerde.

Es gab dann eine Pflanzenmesse, zu der die Leute von weit und fern kamen und dort traf ich auch meinen kleinen Italiener wieder, der mich einlud, in seinem Wohnmobil zu uebernachten und mir ein Zahnputzpulver herstellte. Von dort aus fand ich jemanden, der ganz in die Naehe meines Campingbusses fuhr und mich netterweise mitnahm. So war ich ploetzlich ganz schnell wieder „zu hause“. Nach sechs Wochen des Reisens und fast immer unter Leuten fand ich schoen, mal wieder an einem Ort fuer sich alleine zu sein, aber nach drei Tagen reichte es mir schon voellig. Ich traf meinen englischen ehemaligen Rainbow warrior wieder, der mir an seinem Geburtstag, den ich fast alleine mit ihm verbrachte seine sehr traurige Lebensgeschichte erzaehlte. In der Zeit, in der ich da war, war er infolge erhoehten Alkoholkonsums eines Abends hingefallen und hatte sich das Schluesselbein gebrochen, was nicht nur sehr schmerzhaft war, sondern ihn auch daran hinderte, viele Dinge zu tun. Er lud mich ein, bei ihm zu uebernachten, ebenso wie sein Nachbar unter ihm und so war ich bei beginnenden Minustemperaturen im Warmen.

Eine Woche vor Weihnachten fuhr ich dann zurueck ins Hippieland, wo ich eigentlich nur kurz bleiben wollte, aber es kam alles anders. Vom 20. auf den 21. Dezember besuchte ich Raphael, meinen Ex-Freund, der zu meiner freudigen Ueberraschung eine neue Freundin hatte. Wir feierten den Uebergang in ein neues Zeitalter durch eine Meditation um Mitternacht. Am naechsten Tag, zu dem der beruehmte Weltuntergang anberaumt war, fuehrte mich mein Weg zum Bioladen der Region, wo ich ein Frau traf, die ich fluechtig kannte, die mich jedoch zu einem Bhajanabend einlud in einem spirituellen Zentrum, das ich an seinem neuen Standort noch nicht kannte. Es waren viele Leute dort und war einfach phantastisch schoen, so dass ich schon bereute, in der Nacht ueberhaupt wieder zu meinem Bus gefahren zu sein, um darin zu uebernachten.

Es gab in den naechsten Tagen staendig wieder Veranstaltungen und wir waren eine kleine Gruppe von Menschen, die fast die ganze Zeit zusammenblieben und vieles gemeinsam unternahmen. So gingen wir mitten im Winter Unmengen von schwarzen Pilzen sammeln,  tanzten Kreistaenze zusammen, feierten Weihnachten und Sylvester. Und jeden Freitag gab es Bhajans. Bis zum sechsten Januar, dem Tag der heiligen drei Koenige blieben wir zusammen, dann ging jeder wieder seines Weges. Ich wurde von einer Frau, die ich im Oktober kennengelernt hatte eingeladen, bei ihr zu bleiben. Sie wohnte in einer Sozialwohnung und ich verbrachte dort zweieinhalb Wochen, meistens an meinem ipad, mit dem ich Internet empfing und halbe bis ganze Naechte durchsurfte. Ich war ploetzlich und aus heiterem Himmel auf Channelingseiten gestossen, die mich vorher nicht im geringsten interessiert hatten, aber diesmal verschlang ich sie regelrecht, um zu verstehen, was ablief. Viele waren enttaeuscht hiess es, dass sich die Welt nicht total veraendert hatte, fuer mich war jedoch die Zeit in Gemeinschaft mit anderen Menschen persoenlich eine vollkommene Veraenderung gewesen.

Auf dem Weg zurueck

Ich packte es dann, obwohl die beiden offenbar sehr traurig waren, dass ich ging. Wie ueberhaupt ueberall wo ich war mich die Leute gar nicht gehen lassen wollten.

Die zweite Frau, die mich mitnahm, fragte mich nach meinem Leben .

„Sie sind frei! Wir sind ja Sklaven, mit den Kindern, der Arbeit und allem. Das, was Sie leben ist die Freiheit. Ich freue mich, dass ich Sie kennengelernt habe. Da weiss man, dass es auch weitergeht, wenn es mal nicht mehr geht…“

Der naechste war ein netter Herr, der sieben Jahre bei der Fremdenlegion war.

„Tahiti. Da traf ich auch einen Mann, der von der SS war. 1982. Er fragte mich, ob ich Deutscher bin. Ich verstand nicht, warum er zur SS gegangen ist.“

Zum Abschied drueckte er mir einen Fuenf-Euro-Schein in die Hand, um mir was Warmes zu trinken zu kaufen. Ich kam an dem Tag bis genau zur selben Stelle wie letztes Jahr am zweiten Tag. Hier hatte ich mich unterkuehlt, was mir dann eine Erkaeltung bescherte. Ich ging an demselben Platz vorbei und verknackste mir den Fuss, aber es war nicht weiter schlimm. Beim Spaziergang durch die Stadt fand ich ein paar leere Huetten fuer den Weihnachtsmarkt, die offen waren und Leckereien von einer Baeckerei. Dabei traf ich einen aelteren Herrn, der sich ebenfalls damit versorgte. Ich setzte mich in den Bahnhof, um zu schreiben. Draussen lag auf einigen Autos noch Schnee.

Am naechsten Tag kam ich mit einigen laengeren Wartezeiten bis zu einer dieser wirklichen Grosstaedte. In einem Einkaufszentrum fand ich zwar Internet fuer’s ipad, aber keine Toilette. Die waren schon geschlossen. Man schickte mich zum Fastfoodrestaurant. Dort sass eine Farbige vor den Toiletten.

„Konsumieren Sie erst etwas bevor Sie die Toiletten benutzen!“ fuhr sie mich an. Natuerlich weigerte ich mich und ging veraergert davon. Beim Surfen im Internet sprach mich ein Menschenbuerger an, der mir eine Schlafstelle zeigen wollte. Bloss: was er mir anbot war mir zu dreckig und ungemuetlich. Irgendwann verabschiedete ich mich von ihm. Den naechsten traf ich auf der Strasse sitzend an. Er hatte den letzten Zug verpasst und war gezwungen, irgendwo zu uebernachten. Wir schliefen ganz gut in einem Wohnhaus, dessen Tuer offenstand. Wir wachten frueh auf, doch nicht frueh genug, denn zwei Bewohner liefen an uns vorbei zum Parkplatz, fuenf Minuten bevor wir alles zusammengepackt hatten. Er lud mich zum Fruehstueck in ein Café ein, wo wir mehrere Stunden verbrachten.

„Ich wohne seit zehn Jahren in einem Mobil-Home auf einem Campingplatz. Bei uns kommen auch viel Deutsche vorbei.“

Ich bekam zwei riesige Croissants und ein Pain au chocolat. Dazu trank ich sage und schreibe drei koffeinfreie Kaffee. Er trank derweil Weisswein.

Schliesslich pachte ich es dann doch und machte mich weiter auf den Weg. Ich kam gerade an der Ampel an, an der ich letztes Mal losgetrampt war, da machte mir einer ein Zeichen, ich moege zu ihm kommen. Er fuhr ein gutes Stueck weit und liess mich an einer Raststaette raus. Es regnete mittlerweile in Stroemen, genau wie sie es angesagt hatten. Eine junge Frau versuchte ebenfalls, auf der Raststaette zu trampen.

„Ich stehe schon lange. Es geht hier schlecht.“

Ich stellte mich an den anderen Ausgang. Ein paar Marokkaner sprachen mich gleich an.

„Wir koennen dich mitnehmen.“

Sie fuhren in meine fruehere Wahlheimat. So ging ich gleich zu Mehdi, der allerdings nicht aufmachte. Ich wartete am Parkhaus in der Naehe, da es immer noch regnete. Eine Frau gab mir sogar zwei Euro, weil hier normalerweise immer Bettler stehen. Schliesslich kam auch Mehdi. Er freute sich, mich zu sehen. Es war jedoch gerade ein Freund aus Algerien bei ihm zu Besuch, der mich ein wenig nervte. Die Wohnung war fuer drei einfach zu klein. Mehdi war seit ein paar Monaten ohne Arbeit und verbrachte seine Zeit auf der Suche nach Frauen im Internet.

Als ich beim Selbstbedienungsrestaurant vorbeischaute, um zu sehen, ob jemand dort war, den ich kannte, sah ich den iranischen Fensterputzer und setzte mich zu ihm. Er laberte mich Stunden mit seinem ganzen Schmonz voll. Er hatte all sein Geld nach Australien gebracht, wo er gerne hin auswandern wollte.

„Aber jetzt muss ich noch zwei Jahren in Frankreich bleiben, sonst wuerde ich gecatcht wegen Steuerhinterziehung.“

Und das, weil er dort mehr Zinsen bekommt. Er war schon zwei mal fuer sechs Wochen in Australien gewesen; einmal davon, um eine Internetbekanntschaft zu heiraten, was er dann doch nicht tat.

„Gestern habe ich meine Wohnung verkauft. Ich will mir eine Wohnung mieten und Wohngeld beantragen.“

Ich rastete kurzerhand aus.

„Du willst Wohngeld beantragen, wo du dein Geld beiseite geschafft hast, damit du mehr Zinsen bekommst?“

Noch dazu meinte er, sein Ziel waere, eine Frau fuers Leben zu finden und das, wo er mich nicht einmal zu etwas zu trinken eingeladen hat. Er selbst sass ja auf dem Trockenen. Es war jedenfalls alles zu viel fuer mich und wenn ich anfing, ihn zu hinterfragen, nahm er es als Kritik auf.

„Ich habe dich nicht nach deinem Rat gefragt!“

„Warum erzaehlst du mir denn dann das alles?“

Er begann, mich zu beschimpfen, mit welchen Leuten ich verkehre, stand auf und ging. Besser fuer mich, denn ich war echt an meiner Grenze angelangt.

Ich trampte am naechsten Tag weiter, allerdings so spaet, dass ich nicht so weit kam, um Leute zu besuchen, die ich kannte. Mein Fahrer setzte mich in der Naehe des Bahnhofs einer mir kaum bekannten Stadt ab und ich spazierte durchs Stadtzentrum. Irgendwann stiess ich auf eine Gruppe von Strassenmusikern, die gerade vor einem Restaurant spielten. Sie kamen zu mir und spielten ein Lied fuer mich, bevor sie mich einluden, mit ihnen zu kommen. Sie hoerten allerdings bald auf zu spielen und fragten mich, ob ich schon wisse, wo ich schlafe. Ein spanischstaemmiger Typ lud mich zu sich ein.

„Da hast du ein Zimmer fuer dich. Ich lebe in einem Haus. Mein Cousin holt uns ab.“

Wir gingen noch zur Wohnung, in der drei der Musiker wohnten, bis uns der Cousin abholte. Danach holten wir gemeinsam meinen Rucksack, den ich unterwegs hinter einem Gebaeude abgestellt hatte.

„Witzig“, meinte Pablo, „ein Cousin von mir wohnt keine fuenfzig Meter von hier entfernt. Ich habe zwei Cousins hier. Einer ist gerade bei mir und der andere wohnt hier.“

Diego, der auf Arbeitsuche hier war, weil es gerade in Spanien keine Arbeit gibt, erzaehlte mir am naechsten Morgen mehr aus Spanien.

„Viele Menschen verlieren derzeit ihre Haeuser und Wohnungen, weil sie die Hypotheken nicht bezahlen koennen. Ich bin auch dabei, mein Haus zu verlieren. Jetzt wuerde ich auch kein Haus mehr kaufen, sondern lieber eines mieten. Da kann man gehen, wenn man nicht mehr bleiben will. Aber dass man zulaesst, dass die Menschen auf die Strasse gesetzt werden, ist fuer mich unverstaendlich. Der Staat ist fuer die Banken und nicht fuer die Leute. Fuer mich sollten die Menschen an erster Stelle stehen und nicht das Geld. Europa ist fuer mich etwas ganz Schlechtes.“

Pablo kam mit Cowboystiefeln und im Bademantel ins Wohnzimmer. In bezug auf seine Cowboystiefel meinte er:

„Cowboystiefel habe ich schon als Jugendlicher entdeckt und keine anderen Schuhe mehr getragen.“

Ich machte mich derweil in Haus und Garten nuetzlich, wo es Unmengen zu tun gab.

Einmal ging ich mit den Musikern zusammen auf Tour durch die Stadt und sammelte Geld fuer sie ein, aber es machte mir nicht sehr grossen Spass. Sie hielten auch staendig an, um Bier zu besorgen, zu rauchen oder zu trinken. Wie ich erfuhr, waren alle ausser Pablo fuer kuerzer oder laenger im Knast gewesen, aber sie waren trotzdem nett, wenn sie nicht zu viel getrunken hatten. Alle ausser einem Ungarn, der sich grundsaetzlich nichts von Frauen sagen lassen wollte und deshalb in staendigem Konflikt mit mir stand.

Pablo stellte mich jedem als seine Verlobte vor.

„Du kannst bleiben solange du willst. Wenn du willst, dein ganzes Leben“, pflegte er zu sagen. Und: “Ich freue mich, dass du hier bist.“ Ich fuehlte mich auf jeden Fall gleich bei ihm wie zu Hause und mit seinem Cousin verstand ich mich auch so gut, dass er meinte:

„Michelle, ich moechte, dass du bleibst.“

Also blieb ich. Ich verschte einmal, zurueck zu Mehdi zu trampen, da ich meine Regenklamotten bei ihm vergessen hatte, aber weil es regnete, kam ich nicht entsprechend voran und kehrte auf halbem Weg um. Inzwischen hatte ich auch einen gelben Micky Mouse Regenponcho fuer Kinder als Ersatz gefunden.

„Findest du mich lustig?“ fragte Pablo mehrmals.

„Ich finde dich sehr lustig, aber deine Haare wuerden gerne einmal gebuerstet werden, sonst siehst du bald aus wie ein Rasta.“

„Ich bin gerne ungebuerstet. So meinen die Leute, ich waere ein Zigeuner. Es gefaellt mir, wie ein Zigeuner auszusehen. Ich buerste meine Haare nie.“

Als ich einmal mit Pablo kurz zu seinen Musikerfreunden gegangen war, traf ich einen Bekannten von ihnen auf der Strasse, den ich gerade in ihrer Wohnung begruesst hatte.

Er fragte:

„Du bist nicht dageblieben?“

„Nein, sie trinken. Aber du auch nicht?“

„Ich habe eine Freundin. Und man kommt irgendwann an den Punkt, an dem man sich zwischen Bier und seiner Freundin entscheiden muss.“

Am naechsten Tag erzaehlte mir Pablo, dass seine letzte Freundin nicht wollte, dass er mit dem Ungarn spielt.

„Sie wollte nicht, dass ich auf der Strasse spiele. In Bars schon. Und das ist immerhin sechs Monate her. Ich war 32 Jahre mit der Mutter meiner Kinder zusammen.Und ich haette nie gedacht, dass ich eines Tages alleine dastehe.“

Als wir eine Freundin von ihm besuchten, fragte sie nach der Begruessung:

„Was haelst du davon, wenn homosexuelle Paare Kinder haben; das heisst, sie adoptieren duerfen?“

„Darueber habe ich gerade heute nachgedacht. Ich finde es gut. Das waere sehr heilsam fuer alle.“

Spaeter erzaehlte mir Pablo, dass er mit ihr zusammen in der Klinik war.

„Auch sie hatte eine Depression und kam oft in mein Zimmer. Sie hatte einen Wasserkocher, den man nicht benutzen durfte, aber ich hatte meinen Schrank abgeschlossen und so machte ich dort Kaffee fuer alle. Es hielten sich immer viele Leute bei mir auf. Ihr Freund will allerdings nicht, dass sie trinkt, aber wenn er nicht da ist, trinkt sie ein wenig.“

Zu mir gewandt sagte sie:

„Pablo ist mein einziger Freund. Ich rede sonst mit niemandem. Kommt doch nochmal vorbei.“

Als ich ihr erzaehlte, dass ich zur Zeit weder rauche noch trinke, meinte sie:

„In fuenf Jahren bin ich auch so weit wie du.“

Im Internet entdeckte ich die Seiten von Christoph Fasching und begann, sein 40-seitiges Zukunftsszenario zu studieren. Ich war damit vollkommen einverstanden. Es war unglaublich postiv.

Pablo sagte, ich haette ihn geheilt und auch sein Cousin bestaetigte mir, dass es ihm nun viel besser gehe, seit ich da waere. Erstaunlich fuer mich war, dass er auf mich hoerte und Dinge tat, die ich vorgeschlagen hatte, wie zum Beispiel das Auto zu saugen, in dem noch die Fenstersplitter vom letzten Einbruch lagen oder eine Milch fuer uns zu kaufen statt mich zum Kaffee einzuladen… Er fand es gerade toll, dass ich ihm Auftraege gab, was er tun soll.

Eines Abends spielte er mit zwei Magnetkugeln. Sie naeherten sich einander an, um dann zusammenzukleben.

„Wenn beide positiv sind, stossen sie sich ab, aber wenn einer positiv ist und der andere negativ, ziehen sie sich an.“

Einmal besuchten wir zu dritt eine Lehrerkollegin. Sie tranken zusammen eine Flasche Wein und waehrend Diego mit unserer Gastgeberin draussen eine rauchte, ueberredete Pablo ihre Tochter auf charmante Art, dazubleiben.

„Komm, bleibe bei uns. Hoere dir nur ein Lied an, dann lasse ich dich in Ruhe.“

Genauso wie er mich zu allem Moeglichen ueberredete und genau wie viele Eltern ihre Kinder zu Dingen bewegen, die gar nicht deren eigenem Willen entsprechen. Ich sprach spaeter mit ihm ueber die Sache und er verstand mich auch, zumindest zeitweise.

Einen Tag unternahmen wir eine Tour in ein kleines Staedtchen in der Umgebung, wo wir eine seiner Ex-Freundinnen von vor langer Zeit besuchten. Sie war gerade knapp dem Tod entgangen, da sie wohl so etwas wie einen Darmverschluss hatte, der von ihrem Arzt nicht richtig diagnostiziert worden war.

Ich spazierte kurz vor Sonnenuntergang auf den Huegel hinter dem Haus, auf dem mich eine Madonnastatue aus Lourdes erwartete und lief anschliessend noch durch das Dorf. Nachher kam mir Pablo mit dem Auto entgegengefahren.

„Wir haben dich schon mit Taschenlampen gesucht!“

Sie waren mir jedoch nicht boese deswegen.

Fuer mich war es nach fast zwei Wochen bei Pablo an der Zeit, zu gehen. Ich wollte noch in einer Gemeinschaft vorbeischauen, in der es eine Wagenburg geben sollte, wie man mir in Deutschland erzaehlt hatte…

Von der Wahlmama zur Grossmama

Meine Wahlmama freute sich sehr, mich zu sehen.

„Du kannst ruhig drei Monate bleiben. Dann habe ich etwas mehr Ordnung hier in meiner Wohnung“, empfing sie mich und erzaehlte mir erstmal von ihrem Aufenthalt in Griechenland und auf Gran Canaria.

Ich ging noch dumpstern in stroemendem Regen und brachte eine schwere Tasche voll mit leckerem Essen, von Salat ueber Yoghurts bis zu verschiedenen Sorten Kaese mit, die Chips nicht zu vergessen.

Ihr Sohn Leonardo war umgezogen und wohnte nun neben ihr in einer groesseren Wohnung, war jedoch nicht da. Erst als ich das letzte Mal schaute, bevor ich meine Lagerstaett aufschlagen wollte, war bei ihm Licht. Und dabei war er schon im Bett, als wir bei ihm klingelten.

„Du kannst in meiner alten Wohnung schlafen. Die steht leer. Oder bei mir, aber ich habe keine zweite Matraze.

„Macht nichts, ich habe eine Unterlegmatte.“

Und so kam ich zu einer kleinen Studiowohnung ganz fuer mich allein. Mit Wasser, Strom und Heizung inklusive.

„Du kannst die Wohnung auch mieten. Fuer 320 Euro im Monat. Dann hast du wieder einen festen Wohnsitz. Wir gehen morgen aufs Amt“, sagten die Beiden.

„Moment Mal, ich will doch nur eine Nacht hier schlafen. Reden wir morgen weiter.“

Leonardo half mir noch, die Sachen fuer die Nacht herzubringen und schon nahm ich die neue Wohnung in Beschlag.

„Eine Wohnung ganz fuer mich allein. Diesen Luxus habe ich auch schon lange nicht mehr gehabt.“

„Morgen bin ich hier“, liess mich Leonardo wissen. „Ich muss die Sache mit meinem Telefonanschluss klaeren. Ich habe seit einem Monat kein Telefon und kein Internet. Ja, ich entwickle schon telepathische Faehigkeiten mit meinen Kunden.“

„Genau, so ist das. Mit jeder technischen Neuerung verlieren wir einen Teil unserer natuerlichen Faehigkeiten.“

Am naechsten Tag zeigte mir Geneviève Bilder von Griechenland und Fotos aus dem Konzentrationslager, in dem sie als Kind mit ihrer Mutter nach dem Krieg (!) war und von dem sie mir schon frueher erzaehlt hatte.

„Ich weiss nicht, warum wir da waren. Meine Mutter hat den falschen Zug genommen. Sie wusste nicht wohin. Wir waren Vertriebene. Aber das war kein Ort fuer ein Kind! Und was das Schlimmste dort war, war der Geruch der Desinfektionsmittel.“

Am naechsten Tag machte ich einen Ausflug zu jemandem, den ich bisher nur aus dem Internet kannte und der mir sehr sympathisch war. Der erste, der mich beim Trampen mitnahm, war ein Taxifahrer aus dem Osten.

„Steigen Sie schnell ein. Ich fahre jemanden abholen.“

Er fand den Osten viel besser und lebendiger, vor allem, weil es keine Sperrstunde gibt.

„Bei uns haben die Lokale bis morgens um vier, fuenf Uhr geoeffnet. Sie sollten mal sehen, was da nachts noch los ist. Und hier schliessen sie um zwoelf Uhr nachts. Da soll man nach Hause und ins Bett gehen. Wenn es drueben wieder Arbeit gibt, dann geh ich sofort zurueck. Ich bin frueher auch viel getrampt – bis zum Plattensee. Deshalb nehme ich sie gerne mit.“

„Meistens nehmen mich Leute mit, die selbst frueher getrampt sind.“

Ich kam danach nur schleppend voran, da das Wetter nicht gut war und ich die Landstrasse nahm. Fuenf Stunden brauchte ich fuer hundertfuenfzig Kilometer, allerdings war ich zwischendurch auch viel gelaufen. Ich klingelte bei dem netten Herrn aus dem Internet und stellte mich vor:

„Hallo. Ich bin Michelle vom Vagabundenblog.“

„Du hast doch in Deutschland noch einen anderen Namen, Silvia, oder nicht?“

„Genau.“

„Willst du was essen? Ich habe Wok-Gemuese gekocht.“

„Oh ja, ich habe noch nichts gegessen.“

Es war aeusserst lecker. Bloss danach forderte er mich gleich auf, abzuspuelen und Tee zu kochen. Dies bei anderen zu tun war ich gewohnt, aber nicht, dass mich jemand dazu aufforderte. Dann machte es gar keinen Spass mehr. Auch erzaehlte er fast nur, was ich eh schon wusste.  Nach dem Essen drueckte er mir ein Buch von Michael A. Singer mit dem Titel „Die unbaendige Seele. Ein Weg der Befreiung“ in die Hand.

„Das steht gerade auf meiner Buecherliste auf Platz eins. Es hat das Buch ‚Die neue Erde’ von Eckhart Tolle abgeloest.“

Er hatte naemlich noch was zu tun, lud mich dennoch ein, bei ihm im Gaestezimmer zu uebernachten. Er fuhr indessen zu seiner Mutter, die im Sterben lag.

Bei meinem Spaziergang durch die Stadt ging ich ausnahmsweise mal in einen Laden mit Computern rein und sah das ipad im Angebot. Ich hatte so etwas vorher noch nie in der Hand. Am naechsten Morgen erfuhr ich von meinem Gastgeber, dass seine Mutter in der Nacht verstorben war.

„Ich war der letzte, der sie gesehen hat. Ich bin froh, dass sie erloest wurde. Sie hat sehr gelitten die letzte Zeit.“

Ich merkte, dass ich mich nach dem Lesen hier und da in seinem Buch ganz anders fuehlte als vorher, staerker und mehr bei mir. Ich bekam noch eine Reihe von interessanten Zeitschriften mit auf den Weg, die er nicht mehr brauchte. Beim Zuruecktrampen landete ich diesmal auf der Autobahn auf einem Parkplatz, auf dem ein Mann mittleren Alters in einem blauen Mercedes-Cabriolet anhielt. Er wollte Absinth kaufen fahren und fuhr mich noch bis zurueck zu Geneviève. Dabei erklaerte er mir viel ueber Computer und ich erfuhr,  dass das ipad keinen USB-Stick hat, weil Apple will, dass man seine Daten zentral abspeichert. Fand ich weniger interessant.

Doch kurz bevor ich weiter auf Deutschlandtour gehen wollte und mich von Leonardo und seiner Mutter verabschiedete, liess ich das Angebot des ipads verlauten.

„Ich habe noch ein altes ipad, das mir mal runtergefallen ist“, meinte Leonardo. „Es geht noch. Ich kann es dir geben. Ich habe naemlich fuer wenig Geld ein Neues bekommen und das alte wollten sie wegwerfen. Da nahm ich es mit. Komm.“

Er zeigte mir ein paar Funktionen, loeschte seine Daten und ich war ab da stolze Besitzerin eines ipad. Ich blieb noch zum Mittagessen, dann machte ich mich auf den Weg Richtung Norden. Erst mit der S-Bahn bis zur Autobahnraststaette, wo mich nach etwas Warten jemand mitnahm. Es begann bald zu regnen und wurde bald dunkel, aber ausnahmsweise trampte ich trotzdem weiter bis mich drei Brasilianerinnen mit zu einem Flughafen nahmen. Sehr praktisch, denn hier konnte ich ganz in Ruhe im Warmen schlafen neben den vielen anderen, die hier uebernachteten. Beim Herumstoebern in einem Zeitschriftenladen gewahrte ich, dass ganzheitliche Zeitschriften wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Auch in der Kirche war ich kurz, ein angenehmer Raum.

„Was Christen auszeichnet ist, dass sie immer wieder neu anfangen koennen“, nahm ich als Botschaft mit auf den Weg. Klingt doch gut.

Nach einer nicht sehr langen Nacht versuchte ich zu Trampen – nichts. So fuhr ich mit der S-Bahn weiter und lief ein ganzes Stueck bis zum Friedhof mit den Graebern meiner Grosseltern. Sie sahen beide ziemlich verwaist aus und ich investierte direkt ein paar Euro, um sie etwas freundlicher zu gestalten, setzte aber auch ein paar gefundene, also freegane  Plastikblumen dazu. Ich versuchte weiter zu trampen, aber ohne Erfolg. Ueberhaupt war mir nicht ganz wohl dabei in meiner Heimatstadt. So fuhr ich lieber mit der S-Bahn ein Stueck und trampte spaeter weiter. Ein Typ in einem VW-Bus nahm mich mit. Er machte staendig Anspielungen.

„Ich bin noch zu haben… Ich wuerde gerne mit dir einen Tee trinken… Hier ist meine Telefonnummer, wenn du mal Zeit hast…“

Am Abend wusste ich nicht wo schlafen und druckste auf dem Bahnhof herum. Natuerlich hatte ich auf dem Flughafen nicht unglaublich lange und auch nicht sehr gut geschlafen. Weshalb die Aussicht auf eine harte und kalte Nacht weniger brickelnd war. Ich schaute schon auf dem Gleis, um eventuell zu Freunden zu fahren, als mich ein Behinderter ansprach.

„Das ist aber toll, dass ich dich treffe, wo du so mit dem Rucksack herumreist. Wo willst du denn hin?“

„Weiss ich auch nicht so genau. Ich wollte sehen, ob ich jemand mit einem Gruppenticket finde, um mitzufahren. Ich weiss nicht, wo ich uebernachten soll.“

„Du kannst bei uns uebernachten. Bei mir und meiner Freundin. Ich wohne drei Doerfer weiter. Der Zug kommt gleich.“

Ich nahm die Einladung dankend an und wir fuhren zusammen zu ihm.

„Ich war frueher viel beim Rainbow, bestimmt zehn, zwoelf Mal. Du erinnerst mich daran, wie schoen. Auch, dass ich jemand, der so unterwegs ist helfen kann, freut mich total.“

„Und deine Freundin ist auch nicht eifersuechtig?“

„Glaube ich kaum.“

Sie war wirklich nicht eifersuechtig und lud mich sogar ein, noch eine Nacht zu bleiben, nachdem wir den restlichen Abend zusammen verbracht hatten. Ich schlief lange und gut bis kurz nach zehn. Beim Fruehstueck unterhielten wir uns ueber unser Leben. Er hatte ein Jahr lang in Suedfrankreich Sozialarbeit studiert und war auch sonst gerne in Frankreich.

„Vielleicht koennen wir uns ja naechstes Jahr in Frankreich treffen…“

Ich fuhr indessen erstmal zu meiner Oma ins Altersheim. Sie war unglaublich klein geworden die letzten zwei Jahre, in denen ich sie nicht gesehen hatte. Wir tauschten Neuigkeiten aus und ich erfuhr weniger angenehme Geschichten. Sie lud mich ein, bei ihr auf der Couch zu uebernachten. Sie ging naemlich schon um sieben Uhr ins Bett. Ich ging noch spazieren und sie meinte, ich solle nicht zu lange bleiben, aber was sollte ich so frueh in einem Altersheim, ging ich gewoehnlich erst recht spaet ins Bett. So flog ich schliesslich aus dem Heim raus, weil ich meine Schuhe ausgezogen hatte, bevor ich nach dem Spaziergang zu meiner Grossmutter reinging und mich eine Schwester gesehen hatte. Das war ihr suspekt. Sie kam ins Zimmer und wollte meinen Ausweis sehen. Aber das reichte nicht. Sie wollte jemand von meinen Verwandten anrufen, wenn nicht solle ich gehen. Dass sie abends um die Zeit bei einem meiner Verwandten anruft, die ich Jahre nicht mehr gesehen hatte, wollte ich nicht. Es reichte auch nicht, dass ich die Vornamen all meiner Tanten nannte. Ich ging, um meine Sachen zu holen. Sie kam mit.

„Da brauchen sie aber nicht mehr wieder zu kommen.“

„Was?“ fragte ich.

„Tagsueber ja, aber nicht nachts.“

Sie fragte meine Grossmutter, die erwachte, ob ich ihre Enkelin sei.

„Ja, das ist meine Enkelin.“

„Und wie heisst sie?“

Meine Grossmutter verwechselte alle Namen die letzte Zeit und so auch meinen. Immerhin war sie 98.

Als die Schwester mich zum Ausgang begleitete, erklaerte sie mir:

„Uebernachten geht nur nach Voranmeldung, damit wir vom Nachtdienst bescheid wissen.“

So zeltete ich ganz in der Naehe. Das war viel schoener als im Altersheim. Es war mir dort drinnen eh zu warm und meine Grossmutter steht um sechs Uhr auf. Ausserdem hatte ich so mein Zelt nicht umsonst mitgebracht. Und warm war es noch dazu. Und Sterne am Himmel. Wunderbar.

back in good old germany

Ich bin also wieder zum Oekomuseum gefahren, habe den Bus abgestellt und bin zum See  getrampt. Ich kam zwei Stunden vor Abfahrt an und konnte so noch etwas spazieren gehen. Bernd hatte kein Geld mehr aus dem Automaten bekommen. Er war deswegen ganz aufgeregt.

„Ich habe noch Geld“, sagte ich, „kein Problem.“

„Was haette ich jetzt gemacht, wenn du nicht gewesen waerst? Ich haette nicht einmal genug Geld zum Tanken gehabt. So etwas darf einfach nicht passieren.“

„Du siehst, fuer dich ist schon gesorgt noch bevor du fuer dich selbst sorgen brauchst. Bei anderen Leuten ziehen sie manchmal die ganze Geldkarte ein. Gut, dass du die noch hast.“

„Ich habe schon meine Schwester angerufen und wollte auch mit der Bank telefonieren und mich beschweren, was das soll. Ich habe vollgetankt und damit kommen wir 800 bis 900 Kilometer weit. Und an Mautgebuehren brauchen wir auch einiges. Fuenfzig Euro habe ich noch.“

„Ich habe 200 und ein paar Gequetschte. Das reicht schon.“

Bernd fuhr und fuhr bis gegen zwei Uhr nachts. Da ich die Nacht zuvor vor lauter Aufregung wegen der Fahrt mit Traeumen ueber das, was ich mitnehme, nicht allzu lange geschlafen hatte, schmerzten mir schon die Beine vor Muedigkeit. So hielt Bernd an einer Raststaette an und baute die Angler-Feldbetten auf: eines fuer mich und eines fuer ihn. Wir schliefen bis gegen sechs Uhr in der Frueh und es ging weiter. Bernd haette mich noch viel weiter  mitnehmen koennen, aber ich musste erstmal den Schock, wieder in Deutschland zu sein verdauen und liess mich bald in einer mir bekannten Stadt absetzen. Wir suchten noch nach einer Bank, damit er mir das geliehene Geld zurueckgeben konnte. Er lieh sich 75 Euro und gab mir 90 zurueck. Ich freute mich sehr. Auch zu Essen bot er mir an, was ich gar nicht annahm, denn ich hatte noch Brot, aber sein Mineralwasser nahm ich gerne. Er fuhr weiter und ich lief erstmal durch die Stadt, um eine Toilette zu finden. Am Ende ging ich in die Universitaet. Dann lief ich zu meiner Freundin Giselle, die da war, allerdings ging es ihr nicht gut.

„Ich habe dich schon erwartet. Ich habe die letzte Zeit oefters an dich gedacht. Aber jetzt setze dich erstmal. Ich dachte, du kommst doch in der Regel einmal im Jahr und muesstest nun langsam auftauchen. Und dann hatte ich zwischendurch das Gefuehl, du kommst doch nicht. Und gestern Nacht klingelte das Telefon und da dachte ich am Ende, vielleicht warst du es, aber das konnte ich mir wiederum nicht recht vorstellen.“

„Nein, das war ich nicht. Und ich waere wirklich fast nicht gekommen. Ich habe schon bei Leuten abgesagt, weil ich die Sache aufgegeben habe und ploetzlich lernte ich jemand kennen, der mich mitgenommen hat und fand auch einen Platz fuer meinen Bus. Und lustig ist: letztes Mal warst du die Letzte, die ich besuchte und dieses Mal bist du die Erste!“

Sie war krank, hatte Kopfschmerzen, ihrer Meinung nach infolge einer Nebenhoehlenentzuendung.

„Ich habe gerade jemanden gebeten, zur Apotheke zu gehen, um mir Medikamente zu kaufen. Ich habe naemlich die Nacht nicht geschlafen.“

„Das kann ich fuer dich machen. Da kannst du dem anderen absagen.“

Gesagt, getan.

Danach erzaehlte sie besorgniserregende Dinge ueber Deutschland.

„Die Drei-Klassengesellschaft ist zu einer Zwei-Klassengesellschaft geworden. Die Armen werden immer aermer und die Reichen immer reicher. Und die Mittelschicht gibt es bis auf wenige, die sich gehalten haben, gar nicht mehr. Und Hartz IV ist so angelegt, dass man dort gar nicht mehr rauskommt. In Hartz IV ist jetzt der, der gerade seine Arbeit verloren hat, wie der, der schon lange keine mehr hat. Und sobald jemand fuenfzig Euro von irgendjemand geschenkt bekommt oder sich ein paar Euro dazuverdient, muss er das angeben und es wird von seinem Hartz IV abgezogen. Wenn er das nicht tut, gilt das als kriminell. So werden die Leute kriminalisiert.

Und vom Geld, das fuer die Arbeitslosen da war, haben sie Verwaltungsgebaeude gebaut, um die Leute zu verwalten. Aber die Arbeitsagenturen und Job-Center sind gar nicht dazu da, Leuten Arbeit zu vermitteln. Sie sind dazu da, Leute zu kontrollieren. Und es wird mittlerweile alles kontrolliert. So ging das Geld nicht an die Arbeitslosen, sondern wurde verbaut. Und jetzt duerfen die Leute fuer ein bis zwei Euro die Stunde arbeiten und auf der anderen Seite gehen Milliardensummen an die Banken, um sie zu retten. Obwohl die Banker eine gute Ausbildung genossen haben und genau wussten, was sie tun. Unsere Bundeskanzlerin hat das deutsche Volk verraten.“

„Verraten und verkauft. Aber sie tut genau das, was die Kraefte hinter den Kulissen wollen. Demokratie ist die Macht der Konzerne. Die Konzerne diktieren die Gesetze und die Politiker sind nur dazu da, diese abzusegnen.“

„Und dafuer verdient unsere Bundeskanzlerin gerade ‚nur’ einmal 220 000 Euro im Jahr – dabei sind die Dienstwagen und –zulagen nicht gerechnet.“

„Also nach all den Erfahrungen, die ich gemacht habe, auch ohne Geld zu leben, halte ich es fuer das Beste, wenn das bedinungslose Grundeinkommen eingefuehrt wird.“

„Aber da sind die Politiker dagegen. Und die Leute tun einfach nichts. Und guck dir mich an: ich habe Schulden abzubezahlen, weil ich meinen Vater selbst gepflegt habe und keinerlei Unterstuetzung bekam. Ich habe damals alles versucht. Aber er war offiziell nicht pflegebeduerftig, weil nur dement. Er konnte noch vieles selbst machen, aber musste eben irgendwann ins Heim und ein Heim kostet 6000 Euro im Monat. Seine Rente reichte dazu nicht aus. So habe ich all mein Geld da reininvestiert, auch meine Altersvorsorge.

Und die Kanzlerin hat den totalitaeren Ueberwachungsstaat kennengelernt, um ihn hier nun langsam einzufuehren. Und die Leute sagen nichts dagegen. Weißt du, dass es einen Sonnendaemon gibt? Hast du davon schon gehoert?“

„Nein.“

„Das ist wichtig zu wissen. Es gibt naemlich drei Teufel. Der rote, der weisse und der schwarze Teufel. Es sind die Gegenspieler zu dem Dreieck Vater, Sohn und heiliger Geist.  Luzifer ist der nahste Engel bei Gott, der alles kennengelernt hat und alles weiss. Der ist alles, was Ekstase und schnelle tolle Gefuehle ausloest. Auch alle Drogen und Rauschmittel. Dann gibt es den, mit dem alles ist, was mit Macht, Verstand und Geld zu tun hat. Der alles kontrollieren will. Der heisst Ahriman. Der war das, was in Nazideutschland war. Luzifer und Ahriman haben beide nicht die Liebe. Der Mensch hat ihnen die Liebe voraus und mittels der Liebe kann der Mensch die beiden besiegen.

Und dann gibt es noch den Sonnendaemon. Er ist der Gegenpart Gottes und will grundsaetzlich die Ausloeschung allen Lebens. Das erklaere ich immer den Leuten, die bei mir in Therapie sind. Und Jesus ist die Sonne. So ist es gut, sich mit der Sonne zu verbinden.“

Es war alles sehr interessant. Das Problem war aber: ich bekam heftige und sehr unangenehme Kopfschmerzen, denn ich nehme nicht selten die Krankheiten der Menschen auf, die mich umgeben. Ich musste raus. So ging ich Brot fuer Giselle einkaufen. Auf dem Weg stand auf einem Aufkleber „escape Gegenwind“. Das Gefuehl, dass es besser ist, abzuhauen, hatte ich auch. Giselle bot mir ihre Monatskarte bis Montag an und so ass ich nur noch bei ihr Kartoffeln mit Moehren, nahm schnell ein paar Sachen aus meinem Rucksack, die ich nicht brauchen wuerde waehrend ich einen heftigen Migraeneanfall mit Uebelkeit und Schweissausbruechen bekam und stob davon.

Am Bahnhof angekommen, wollte ich eventuell zu einer anderen Freundin etwas weiter  entfernt fahren. Es fuhr auch gerade ein Zug in die Richtung, also stieg ich ein. Doch er war zu voll und es gab keinen Sitzplatz. So schlecht wie es mir ging, wollte ich dann doch nicht fahren, um spaet anzukommen und auch nicht gleich schlafen zu koennen… So stieg ich eine der naechsten Haltestellen aus und legte mich neben den Bahnsteig auf meine Isomatte ins Gras. Zwei Minuten spaeter kam die Polizei. Zwei Beamten, die zwar nett waren und um mich besorgt, aber trotzdem meine Papiere verlangten, die sie ueber Funk ueberprueften. Ich fuhr mit dem naechsten Zug zurueck, um bei einer anderen Bekannten vorbeizuschauen. Sie war da.

„Du kommst mir etwas ungelegen“, sagte sie. „Ich mache gerade sauber.“

„Ich wuerde mich nur gerne hinlegen. Mir geht es so schlecht.“

„Da, diesen Teppich habe ich schon gesaugt. Du kannst auch die Kissen benutzen.“

Ich machte es mir bequem und begann ihr die Geschichte mit Giselle und der Polizei zu erzaehlen.

„Du, es wird mir zu viel. Ich fuehle mich ueberfallen. Ich brauche meinen Raum zum Saubermachen fuer mich. Ueberhaupt mache ich jetzt die naechste Zeit nichts. Ich habe zu vielen Leuten geholfen.“

„Mach dir keine Sorgen um mich. Ich finde es gut, dass du das merkst und nicht ueber deine Grenzen gehst. Mir hat heute jemand Geld gegeben, da gehe ich vielleicht ins Hostel.“

„Ich kann dir noch fuenf Euro dazugeben.“

„Nein, lass mal.“

Ich ging einen Stock hoeher und setzte mich in den Sessel, der dort stand bevor ich mich auf den Weg Richtung Hostel machte. Doch der erste VW-Transporter, der auf der Strasse stand, war offen.

So hatte ich eine trockene Unterkunft fuer die Nacht, denn es regnete staendig.

Den naechsten Tag verbrachte ich damit, von einer Ecke der Stadt zur anderen zu fahren. In einem etwas entlegenen Stadtteil schaute ich, ob eine fruehere Bekannte noch dort wohnte, die aber wie ich erfuhr, schon seit Jahren umgezogen war. Dann schaute ich mir eine verschlossene alte Wagenburg an und traf dort einen Typ, der ganz komisch drauf war. Er meinte dumpstern waere Diebstahl und er wolle sein Geld lieber ehrlich verdienen, sucht aber seit einem Jahr eine Wohnung und hat Schulden! Aber er wollte einen Verein gruenden, um erstmal sich selbst zu helfen…

Dann fuhr ich in den naechsten Stadtteil und fand gleich ganz viele Bau- und andere Waegen ueberall rumstehen. Noch dazu war da ein offener Gemeinschaftsbereich, in dem ich Feuer und ein paar Leute sah. Vier Frauen sassen um den Tisch und luden mich zum Essen ein, zu leckeren Nudeln mit Tomatensosse.

„Du hast Glueck. Hier ist nicht jeden Abend was los. Ich habe heute was gekocht fuer meine drei Freundinnen, die zu Besuch kamen. Sie wohnen auch in Waegen, aber nicht hier. Wir traeumen davon, irgendwann einmal zusammen zu wohnen.“

Wir waren den ganzen Abend zusammen und es war sehr schoen. Gegen ein Uhr nachts fragte mich die Bewohnerin:

„Hast du was zum Schlafen?“

„Nein.“

„Du kannst in dem Bauwagen hier uebernachten. Er ist von einem Jungen, der sowieso fast nie da ist. Es gibt nur keine Heizung.“

„Kein Problem.“

Ich wachte frueh auf – es regnete wieder. Ich stuerzte mich gleich an die Arbeit, um den Gemeinschaftsbereich etwas sauber zu machen. Mein Nachbar trank einen Kaffee und freute sich ueber meinen Einsatz.

„Ja toll, wir vermieten dir gleich was.“

„Ja, gerne.“

„Du kannst auch alles nehmen, was zu Essen da ist.“

„Ja, danke.“

Dann lernte ich einen Jungen kennen, der sich ebenfalls bewegt und nicht fix irgendwo steht.

„Letztes Jahr war ich in Portugal, aber dieses Jahr weiss ich noch nicht. Ich wuerde gerne in die Tuerkei, aber ich habe einen Sohn und der ist zum Teil auch bei der Mutter.“

Er gab mir die Wegbeschreibung fuer eine Wagenburg in Frankreich.

„Hier ist es nett. Die Leute sind locker“, schloss er.

Als ich Giselle die Monatskarte zurueckbrachte, kamen wir irgendwie auf das englische Koenigshaus zu sprechen.

„Maria Stuart war die letzte rechtmaessige Koenigin, bis sie sie umgebracht haben. Und Kaspar Hauser war auch so ein Fall. Es war das Haus Baden, das den eigentlichen Nachfolger ausgesetzt hat. Er wurde in einem Schloss in Dunkelheit gefangen gehalten. Spaeter wurde er von einem englischen Gentleman aufgenommen und in gute Kleider gesteckt. Als er erwachsen war, fragte sich Kaspar Hauser irgendwann, wer seine Eltern waren. Er sah seine Mutter eines Tages in einer Kutsche vorbeifahren und spuerte, dass sie es war und sie war wohl auch wie elektrisiert. Sie wollten ihn schon frueher umbringen, aber dann haben sie es doch erst spaeter getan. Das war das Haus Baden.

Wie auch die deutsche Revolution. Die haben naemlich ganz schoen rebelliert. Und es sah fast so aus, als wuerden sie gewinnen. Der preussische Koenig wollte schon abdanken. Doch dann holte sich Baden die Unterstuetzung vom Heer des russischen Zaren und von Oesterreich. Nur dadurch haben sie die Revolution besiegt.

Deutschland haette nach der Wiedervereinigung die Chance gehabt, das Positive von beiden Staaten zu uebernehmen und als Vorreiter fuer die Welt etwas voellig Neues aufzubauen. Aber sie haben ihre Chance verpasst. Der Kapitalismus hat gesiegt. So wurden ganze Firmen, Haeuser und Grundstuecke fuer einen Euro verkauft.“

Nach ausgiebigem Fruehstueck mit gedumpstertem Biozeug packte ich am naechsten Tag meine Sachen, um weiterzufahren. Trampen ging nicht, da es staendig regnete. Also ging ich zum Bahnhof. Bloss war mir die Fahrkarte zu teuer und die guenstigere Verbindung hatte ich verpasst. Ich wusste nicht, was tun. Ein aelterer Herr kam vorbei und fragte nach einer Zugverbindung. Ich machte seinen Zug ausfindig. Er setzte sich auf eine Bank.

„Was hatte ich fuer einen Tag!“ stoehnte er. „Ich habe meine Lebensgefaehrtin im Krankenhaus besucht. Sie hatte eine Hueftoperation und mit der Narkose ging es nicht gut aus. Nun ist sie in der Psychiatrie.“ Er weinte. Ich legte meinen Arm um seine Schulter.

„Vielleicht wird das ja wieder.“

„Das hoffe ich auch.“

Er beruhigte sich wieder.

„Ich nahm den Bus zum Krankenhaus. Es gibt zwei Busse; bei dem, den ich nahm, musste ich noch 300 Meter laufen. Und das im Regen. Dann waeren es nochmal 700 Meter bis zur Pforte gewesen. Zum Glueck haben sie mich dann hingefahren, als ich sagte, ich koenne nicht weiter laufen. Ich muesste mich naemlich auch operieren lassen. Aber ich wollte warten bis meine Lebensgefaehrtin sich von ihrer Operation erholt hat. Und jetzt das. Ich bin naemlich 79 und sie ist ebenso alt. Das ist Schicksal.“

Er hob den Kopf.

„Schauen Sie dort drueben die Leute. Alle starren sie auf ihr Handy.“

„Das ist mir gestern auch schon aufgefallen. Die Leute stehen nebeneinander und jeder spricht mit jemand anderem am Telefon, statt dass sie sich miteinander unterhalten. “

Als ich ihm erzaehlte, dass ich nicht wisse, was tun, weil mir die Fahrkarte zu teuer war und ich die guenstige Verbindung verpasst hatte, gab er mir Geld fuer die Fahrt. Ich musste nur zwei Euro fuenfzig zuschiessen. Gluecklich fuhr ich zu meiner Wahlmama.

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