Da ich auch andernorts davon gehoert habe, man koenne Briefe innerhalb Deutschlands fuer 3 Cents verschicken, hier eine ausfuehrliche Abhandlung zum Thema mit Dank an den Honigmann:
Kategorie: Neuer Vagabundenblog
Hier wird der ursrünglich auf myspace begonnene Vagabundenblog weitergeführt in eigenen Texten und mit von anderen übernommenen Beiträgen zum Thema freeganes Leben, also Leben ohne viel Geld und von allem, was kostenlos ist
Schmetterlingsgruesse
Eines schoenen Tages trampte ich zu Raphael. Er freute sich ueber mein Kommen. Mir gefiel seine neue Wohnung unterm Dach. Es war sehr gemuetlich. Die Frau, mit der er vor Kurzem ein Verhaeltnis hatte, war zu ihm fuer zwei Tage zurueckgekehrt und dann verschwunden.
„Wir verstehen uns so gut auf allen Ebenen. Aber als sie weg war, wollte ich sterben. Drei Mal im Ganzen. Die Musik, die du gerade hoerst, hat mich gerettet. Ansonsten hatte ich Probleme mit einem Nachbarn, aber das hat sich jetzt gelegt. Und jetzt moechte ich aufhoeren zu rauchen. Und wegziehen moechte ich auch.“
„Das hast du mir schon ein paar Mal erzaehlt, dass du aufhoeren willst zu rauchen. Und von hier wegziehen willst du, seit ich dich kenne. Aber wenn du aufhoerst zu rauchen, mache dich darauf gefasst, dass dich erstmal eine Menge Gefuehle ueberschwemmen, die normalerweise durch das Rauchen abgeschwaecht werden. Ich habe jedes Mal, wenn ich aufgehoert habe zu rauchen, erstmal zwei bis drei Stunden geheult. Das naechste, was passiert ist, dass die Zeit unendlich lange wird. Ein Tag erscheint wie die Unendlichkeit. Das Schlimmste fuer mich war jedoch das Gefuehl der Langeweile. Obwohl ich Sachen zu tun hatte. Das Gefuehl der Langeweile in Momenten, in denen ich irgendwo warten musste war so schrecklich und gross, dass ich lieber geraucht habe, als dieses Gefuehl zu empfinden.“
„Ich werde Pflanzen einnehmen, die mir helfen. Auch die Bachblueten koennen mich dabei unterstuetzen.“
„Das ist wahr und eine gute Idee.“
Die Zeit verging wie im Flug. Am fruehen abend dumpsterten wir zusammen und danach wollte ich gehen. Es war nur noch wenig Verkehr auf der Strasse. So lief ich zurueck zu Raphael. Da er jedoch auf mein Klopfen hin nicht reagierte und seine Nachbarin im Erdgeschoss weniger freundliche Worte ins Treppenhaus rief, die in mir Angst ausloesten, schlich ich mich davon. Ich ging zu der Englaenderin, die mehrere Zimmer zu vermieten hatte. Oben war Licht und so ging ich hinauf und traf sie mit drei Maennern, von denen ich einen kannte. Er begruesste mich freudig und umarmte mich. Die Englaenderin fragte mich, was ich wollte. Ich erklaerte ihr kurz meine Situation und sie bot mir ein Zimmer an fuer fuenfzehn Euro. Ich nahm es kurzerhand an. Der Mann, den ich kannte war verschwunden, obwohl er mich informiert hatte, dass er ebenfalls hier im Erdgeschoss wohnte. Doch am naechsten Morgen lud er mich zum Fruehstueck ein und erzaehlte mir von dem Projekt einer Gemeinschaft, das er hier gerne verwirklichen wuerde, nachdem ich ihm von meinen Gemeinschaftserfahrungen berichtet hatte.
„Ich schreibe alles dazu auf. Im Moment jedoch mache ich eine Ausbildung, damit ich eine Struktur habe. Ich lerne auch sehr viele interessante Sachen ueber die Geschichte der Region. Deshalb muss ich leider bald aufbrechen. Aber ich habe letztes Mal schon gedacht, dass ich mich gerne mit dir unterhalten wuerde und dann warst du auf einmal nicht mehr da. Deshalb wollte ich jetzt die Gelegenheit nutzen…“
„Du warst letztes Jahr an Neujahr bei der Sylvesterfeier der erste Mensch, den ich umarmt habe. Das habe ich nicht vergessen.“
„Stimmt. Ich erinnere mich.“
Wir verabschiedeten uns. Ich kam am Markt vorbei und trampte irgendwann hoch zu Jocelyne. Wer mich mitnahm, war ihre ehemalige Nachbarin. So hoerte ich die Geschichte von der anderen Seite.
„Ich ging zur selben Frau in den Kindergarten, bei der auch Jocelynes Tochter ist. Sie ist die beste Kindergaertnerin, die man sich ueberhaupt vorstellen kann. Und Jocelyne behauptet, diese Frau wuerde ihre Tochter misshandeln. Ich kann versichern, dass dies nicht wahr ist. Das ist vollkommen ausgeschlossen. Ich kenne diese Frau seit zwoelf Jahren und es ist niemals etwas Negatives aufgefallen. Jocelyne hingegen kreiert Geschichten.“
Genau dasselbe hatte Raphael im Zusammenhang mit Jocelyne erwaehnt und gesagt, ich solle aufpassen. So kam ich zurueck. Am Anfang war Jocelyne erfreut, mich zu sehen.
„Du lebst dein Leben“, empfing sie mich, als ich ihr sagte, dass ich woanders uebernachtet hatte. Doch schon bald gab es Probleme. Ich sass am Computer, als sie mich attackierte, weil ich Kontakt mit Raphael gehabt hatte, der sich wiederum hin und wieder mit dem „Erzeuger“ ihrer letzten beiden Kinder traf, wie sie ihn bezeichnete. Und grundsaetzlich kann sie es nicht verkraften und will mit niemandem etwas zu tun haben, der mit ihm auch nur entfernt Kontakt hat. Anschliessend ging sie zu einem Termin, den sie hatte. Ich packte meine Sachen, um zu gehen.
Ich stellte mich auf die Strasse, wusste jedoch nicht einmal, in welche Richtung ich fahren wollte. Vorwaerts oder wieder zurueck. Niemand nahm mich mit. Nach einer Stunde in der Sonne gab ich auf. Genau wegen demselben Problem war ich damals ausgezogen, als ich bei ihr wohnte. Wenn ich jetzt ging, wuerde ich fluechten, wie immer. Doch ich hatte keine Lust mehr darauf. Ich wollte den Konflikt irgendwie anders loesen, als davon zu laufen. Das hatte ich lange genug praktiziert. Also stellte ich meine Sachen ab und ging zum See.
Ich legte mich in den Schatten und ruhte mich aus. Ein kleiner blauer Schmetterling setzte sich auf meine Hand und krabbelte auf und ab. Ich erinnerte mich an Said, der mir in einer der letzten mails geschrieben hatte, er sende mir einen Schmetterling. Und es war fast der gleiche Platz, an dem wir im Gras gelegen hatten. Ich war entzueckt von dem Schmetterling, der sich auf meine Schuhe setzte und auf meinen Rucksack, bevor er wieder auf meine Hand kam. Auf einmal sprach mich ein Mann mit einem Strohhut an, der gerade vorbeikam.
„Gehst du spazieren?“ fragte ich ihn. „Wenn ja, wuerde ich gerne mitkommen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Klar, komm mit. Ich bin Jacques und du?“
„Michelle.“
Er wohnte in einem der Weiler zwei Kilometer entfernt und hatte noch nie ein Auto besessen. Es hielt gleich ein Wagen an, um uns mitzunehmen. Er lud mich ein, bei ihm zu uebernachten.
„Du hast ein eigenes Zimmer.“
Wir assen im Garten zu abend. Ich wollte nicht einmal mehr zu Jocelyne zurueckgehen, um meine Sachen zu holen. Es ging auch so. Er hatte kein Internet, dafuer jedoch Fernseher und Radio. Er trank keinen Alkohol und rauchte lediglich Zigaretten.
Bevor ich ins Bett ging, schaute ich interessehalber noch, ob ich ins Internet gehen koenne mit meinem ipad und siehe da, ich hatte Glueck: ich empfing genau den Anbieter, zu dem ich das Passwort hatte – Huchuu. So konnte ich eine Mail von dem Hollaender empfangen, die sehr positiv war und in der er mich einlud, zu der Permakulturfarm zum wwoofen zu gehen, bei der er fuer ein paar Tage untergekommen war. Vier Stunden taegliche Mithilfe gegen freie Kost und Logis. Sie wuerden Leute brauchen. Und ich erfuhr, dass er vorhatte, erst am Freitag zurueck zu kommen. Ich teilte ihm die Schwierigkeiten mit, die ich mit Jocelyne hatte. Er sah vor, zwischen eins und sechs Uhr nachmittags da zu sein. Ich war nicht sehr erfreut darueber, einen weiteren Tag auf ihn warten zu duerfen, aber ich beruhigte mich damit, mir zu sagen, dass es wohl fuer irgendetwas gut ist. Und mein Gastgeber hatte mich ja fuer zwei Tage eingeladen.
Da ich entgegen meiner urspruenglichen Absicht kein Schreibheft gekauft hatte und mein altes Heft nahezu voll war, ueberlegte ich, was ich stattdessen tun koennte. Vielleicht meine Aufzeichnungen statt in ein Heft direkt aufs ipad schreiben. Und so legte ich erstmals los. Denn sonst hatte ich erstmal alles in ein Heft geschrieben und dann muehsam abgetippt an irgendeinem Computer, den ich irgendwo benutzen konnte. Noch dazu musste ich die Hefte dann irgendwo zuruecklassen und oft waren auch andere Informationen sowie Adressen darin, auf die ich dann nicht mehr zugreifen konnte.
So setzte ich mich in den Garten und schrieb drauflos. Und erstaunlicherweise ging es gar nicht so schlecht. Nach einer Runde, die ich drehte und dem Abendessen, wollte ich weiter meine Adressen aufschreiben, die ich mir auf Zetteln notiert hatte und war nicht so ganz bei der Sache, als mich mein Gastgeber fragte, ob ich nicht einmal vorhatte, eine Familie zu gruenden. Noch dazu war es mein wunder Punkt.
„Reden wir nicht darueber“, fing ich an.
„Wieso?“
„Weil mein Versuch, eine Familie zu gruenden klaeglich gescheitert ist. Weil…“
Er bekam eine Krise, weil ich nicht nett genug geantwortet hatte. Ich glaube, der eigentliche Grund seines Missmutes war jedoch, dass ich mich mit meinem ipad beschaeftigt hatte, waehrend er mit mir redete. Er sagte glatt:
„Das ist hier kein Hotel.“
Genau das hatten mir meine Elten auch immer gesagt. Ich war dann sehr freundlich zu ihm und entschuldigte mich fuer meine etwas brueske Antwort, woraufhin er sich bruhigte..
Ich schlief zwei Naechte bei ihm und als ich sicher war, dass der Hollaender zurueckgekommen war, ging ich wieder zu Jocelyne. Ich wusste, er wuerde unseren Konflikt loesen koennen und dem war auch so. Er war einfach genial. Erst wollte ich mit ihm weiterreisen, aber es fuehlte sich nicht richtig an. So trampte ich nur bis zum naechsten Ort und dann wieder zurueck. Schon als ich in das Auto einstieg, das anhielt, bedeutete mir die Fahrerin, dass ihr Beifahrer nur deutsch und kein Franzoesisch oder Englisch spreche.
„Wir haben keine gemeinsame Sprache. Wir nehmen ein Uebersetzungsprogramm zu Hilfe.“
Sie zeigte mir einen kleinen Apparat.
„Aber die beiden Sprachen sind so verschieden, auch in der Satzstellung und die Uebersetzung ist manchmal so schlecht, dass der andere es nicht versteht.“
„Wenn Sie wollen, kann ich uebersetzen. Was moechten Sie ihm denn gerne sagen?“
„Dass ich muede bin! Mit dem ganzen Uebersetzen und allem.“
Sie wollten genau zu dem Ort, an den ich auch wollte, um die Burg zu besuchen. Sie luden mich dazu ein und ich uebersetzte, was sie sich sagen wollten, obwohl sie fast alles schon voneinander wussten.
„Wir haben uns in Tunesien bei einer archaeologischen Ausgrabung kennengelernt,“ erzaehlte sie mir.
„Und uns dann in Frankreich wieder getroffen. Dann bin ich nach Deutschland zu ihm gefahren, aber es hat mir bei ihm ueberhaupt nicht gefallen. Es war mir viel zu sauber und ordentlich. Und ueberall hingen Fotos von verstorbenen Familienmitgliedern. Damals habe ich mir schon gesagt, dass es nicht geht mit uns, aber ich wollte es trotzdem nochmal probieren. Schauen Sie ihn sich an. Er ist ein schoener Mann. Aber ich habe Jahre lang fuenf Maenner versorgt, denn ich habe vier Soehne und jetzt habe ich keine Lust mehr, einen Mann zu versorgen. Ich kann auch ohne leben und moechte mein Leben nun geniessen. Ich bin 69 Jahre alt und er ist siebzig.“
Ihm gefiel es umgekehrt nicht an dem Ort in den Bergen, an dem sie wohnte. Sie meinte, er haette keine Interessen, er jedoch, sie haetten viele Dinge gemein. Sie liebten sich offenbar, aber viele Dinge waren zu schwierig. Wir redeten und redeten und setzten uns am Ende noch in ein Cafe, bevor sie sich bedankend bei mir verabschiedeten.
Ich ging dann noch spazieren und fand beim Blick in eine Muelltonne zwei Tueten voll mit Essen: verschiedene Sorten Kaese, mehrere Brote und diverse andere Lebensmittel. Schwer beladen ging ich zurueck zu Jocelyne. Sie erwartete jedoch Besuch von einem Bekannten, der eigentlich schon am nachmittag kommen wollte, aber noch nicht da war. Und sie hatte schon vorher angekuendigt, dass sie mit ihm alleine sein wollte, weswegen ich auch weggegangen war. So zog ich wieder von dannen ohne mich auf weitere Diskussionen einzulassen. Ich versteckte all meine Sachen und ging zu einem Fest am Dorfplatz. Ich stand erst eine Weile am Rande bis ich mich an einen der Tische setzte. Nach einer Weile gesellten sich andere Menschen zu mir, darunter auch eine Frau, die ich kannte. Wir tanzten. Eine Weile spaeter setzte sich ein Mann zu mir, der in dem Ort wohnte, in dem ich eineinhalb Jahre gelebt hatte.
„Heute gibt es dort Techno und Wave-Musik bis vier Uhr morgens. Da ist es unmoeglich zu schlafen. Deshalb kam ich hierher. Ich werde in meinem Auto schlafen.“
„Da koennen wir vielleicht zusammen uebernachten. Ich habe naemlich heute auch keinen Ort zum Schlafen.“
„Echt?“
Mir war es zwar nicht moeglich, im Auto einzuschlafen, aber um vier Uhr fuhr er dann zu sich nach Hause und nahm mich mit. Er wohnte erst seit drei Monaten in meinem ehemaligen Heimatort und ich hatte sogar ein eigenes Zimmer zur Verfuegung.
In alten Gefilden
Ich wollte mit meinem Gepaeck zu Claude, aber er war nicht da. So stellte ich meine Sachen bei dem Verein mit dem Umsonstladen ab, in dem ich ab und an mal vorbeigeschaut hatte. Ein sehr freundlicher Marokkaner, der gerade einen Computerkurs hielt empfing mich und nahm mir sogar meine Sachen aus der Hand, um sie zu verstauen.
„Du kannst sie gerne hierlassen. Wir sind mindestens bis sechs Uhr da.“
Er war mir sofort sympathisch. Ich ging eine Stunde spazieren und kam zurueck. Sie redeten immer noch mit den Leuten vom Linuxkurs, waehrend ich die Kueche ein wenig saubermachte. Draussen regnete es heftig. Spaeter kam Said, bot mir an, mir einen Tee zu kochen und fragte, ob ich wisse, wo ich uebernachte. Ich druckste ein wenig herum.
„Nicht wirklich. Die Person, bei der ich uebernachten wollte, war vorhin nicht da.“
„Wenn du willst, kannst du bei mir uebernachten. Ich lasse dich doch nicht in dieser Situation stehen.“
„Ja, super.“
Ich freute mich sehr. Er wohnte im selben Haus wie der Kabyle, nur einen Stock hoeher. Und das seit ein paar Monaten. Wir assen zusammen und redeten und redeten. Er hatte eine Freundin, die im siebten Monat schwanger war, aber woanders wohnte. Nach einiger Zeit erzaehlte er, dass er vor kurzem massive Probleme mit seinem Nachbarn von unten hatte, bei dem ich vorher zwei Mal untergekommen war.
„Er respektierte mich nicht und behandelte mich schlecht. Am Ende artete es in einen Kampf aus. Wir gingen echt aufeinander los. Aber jetzt weiss er, dass er nicht alles mit mir machen kann und die Situation hat sich beruhigt.“
Er wollte seine Freundin die naechsten Tage besuchen. Da sie nicht weit von Jocelyne entfernt wohnte, beschloss ich, mit ihm mit dem Bus mitzufahren. Es regnete in Stroemen. Seine Freundin holte uns von der Haltestelle ab und brachte mich zu Jocelyne. Sie war sehr nett und ganz locker. Als ich bei Jocelyne ankam, sass dort ein Mann mit grauem Bart und mittellangen Haaren auf dem Sofa.
„Er kam, um hier Haus zu hueten, weil ich vielleicht fuer ein paar Tage in eine andere Stadt fahre, um dort nach einer Wohnung zu suchen“, klaerte sie mich auf.
„Ich muss hier weg. Die Behoerden sind schon hinter mir her wegen meiner Tochter, die sie mir am liebsten weg nehmen moechten. Ich habe Probleme mit der Kindergaertnerin. Sie hat mir meine Tochter schon zwei mal eine viertel Stunde verspaetet wieder gegeben. Es waren schon zwei Leute hier vom Amt. Ich konnte mich nur retten, in dem ich zum Buergermeister gegangen bin.“
Es stellte sich heraus, dass ich Manu von frueher kannte, aber ich hatte ernsthaft Probleme, ihn wiederzuerkennen. Er schien fuer mich ein komplett anderer Mensch zu sein. Als wir alleine waren, erzaehlte sie mir, dass sie jetzt vermehrt Kontakt zu Hare Krishna Anhaengern hatte.
„Doch es macht mir irgendwie Angst. Ich habe das Gefuehl, sie wollen mich schwach machen, um mich dann einweihen zu koennen. Ich habe eine andere Auffassung von Gott und das sage ich ihnen auch. Ich war letzt schon einmal ein paar Tage bei Amar, aber er war nicht sehr nett zu mir. Erst dachte ich, wir werden vielleicht ein Paar, aber dann wollte er nicht und hat mir Manu vorbeigeschickt, um Hauszuhueten, waehrend ich bei ihm bin. Aber ich weiss nicht einmal, ob ich wirklich zu ihm gehen will.“
„Wenn ja, dann kann ich ebenfalls fuer dich haushueten. Das ist kein Problem.“
Als ich ihr von der Gemeinschaft erzaehlte, meinte sie:
„Ich habe auch einen kennengelernt, der bei ihnen war. Den haben sie rausgeschmissen.“
Ich hatte am Anfang etwas Schwierigkeiten mit Manu, was sich aber nach einiger Zeit legte. Es kam dann Amar vorbei, der Manu eingeladen hatte, herzukommen. Er selbst war sechs Jahre Moench in verschiedenen Kloestern gewesen, aber heute trank und rauchte er, wie jeder andere auch.Wir unterhielten uns auch ueber die Geschichte mit meinem Bus. Beide kannten den Mann, der mir sein Terrain zur Verfuegung gestellt hatte. Sie glaubten, dass er schwarze Magie bei der ganzen Sache eingesetzt haette. Jetzt war mir klar, warum es mir nicht gelang, dorthin zurueckzufahren.
Am Ende fuhr Jocelyne dann doch nicht mit zu Amar. Jedoch hatte sie aeusserst grosse Probleme mit Manu und mir war bald klar, dass ich hier war, um sie zu beschuetzen. Manu ruhte sich bei Jocelyne aus und tat fast nichts. Wie ich spaeter erfuhr, hatte er zuvor relativ viel gearbeitet.
Eines Tages sassen Jocelyne und ich am See, als ein mit zwei Rucksaecken bepackter Hollaender auftauchte. Ich winkte ihn herbei. Er war noch am selben Tag aus Holland per Flugzeug angekommen und wollte in drei Wochen die interessantesten Plaetze in der Gegend zu besuchen. Ich spazierte mit ihm Richtung Burg. Er arbeitete mit Energie und sah alles aus einer anderen Perspektive. Auf einmal hiess er mich stehenbleiben und verankerte in mir kristalline Energie. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, aber ich kam mir vor wie in einer anderen Welt. Dann bat er mich, auf meinem Weg einen Schritt beiseite zu treten:
„Jetzt gehst du einen neuen Weg.“
Auch Jocelyne half er ad hoc bei den verschiedensten Problemen. Manu indessen reiste am naechsten Tag ab. Wir blieben noch, um auf die Kleine aufzupassen, bis Jocelyne von einer Therapiesitzung zurueckkehrte. Dann fuhr ich mit ihm zu einem heiligen Berg, den er besuchen wollte. Wir kamen trampend erst recht gut voran, aber bevor wir hochfahren wollten, kamen wir ins Stocken. Eine Frau sprach uns an:
„Bei dem schlechten Wetter ist es keine gute Idee, dort hochzufahren. Sie werden nichts sehen und es ist kalt. Bleiben Sie lieber hier und gehen auf den Campingplatz.“
Wir nahmen ihren Vorschlag an und Piet lud mich ein. Es kostete eh fuer eine und fuer zwei Personen das gleiche. Auf dem Campingplatz waren supernette Leute, die mir eine aufblasbare Matratze, eine Supermegaluftpumpe und eine warme Decke gratis zur Verfuegung stellten. So war ich fuer die Nacht wunderbar ausgestattet, auch wenn ich wegen des rauschenden Baches direkt neben uns und der hohen Energie seitens des Heiligen Berges und meines Zeltnachbarn gar nicht richtig schlafen konnte. Sie hatten den Campingplatz gerade erst uebernommen und vor einem Monat aufgemacht. Am naechsten Tag trampten wir den Berg hinauf bis zum Pass, versteckten unsere Sachen an einem Huegel, den wir auch als Schlafplatz auserkoren hatten und liefen die letzten Meter bis zum Gipfel. Dort oben sprach ich kurz mit einer Australierin, die wir am naechsten Tag wiedertrafen, als wir kurz im Geschaeft des Dorfes halt machten.
„Ich schreibe an einem Buch ueber eine indische Dichterin, die im 8. Jahrhundert lebte und deren Gedichte Gott geweiht sind. Sie lebte im Sueden Indiens und so fahre ich oft dorthin. Aber jetzt brauche ich mal eine Pause und ich kenne jemanden, der hier wohnt.“
Wir hatten ein interessantes Gespraech und Piet war von ihr ganz angetan. Am Abend schlief er auf dem Campingplatz, aber da ich mal eine ruhige Nacht ohne hochschwingenden Nachbarn und Bach neben mir verbringen wollte, suchte ich mir im Dorf einen Platz zum Schlafen. Ich fand ein paar aeusserst dicke Stuhlkissen an einer Pension, die ich zu einer Matratze zusammenlegte, um in der ersten warmen Nacht des Jahres ohne Zelt im Freien zu uebernachten. Am naechsten Tag trampten wir wieder runter und er wollte weiter, ich jedoch war mir nicht sicher, ob ich mitfahren sollte. So klappte es auch mit dem Trampen nicht. Keiner nahm uns mit.
„Wir muessen mit unserer Frequenz runtergehen. Sonst sehen sie uns nicht“, meinte Piet und forderte mich auf, es ihm gleichzutun. Aber uns nahm trozdem keiner mit. Stattdessen erwartete ich nur den Bus, den ich vor einer Woche mit Said genommen hatte, um zu sehen, ob er nicht vielleicht drin war. Er hatte mir am Abend vorher eine mail geschickt, er koenne an dem nachmittag bei Jocelyne vorbeischauen, denn ich hatte nicht nur ihn, sondern auch seine Freundin zu Jocelyne eingeladen. Ich hatte ihm jedoch zurueckgemailt, dass ich nicht da sei. Ich wollte auch keine Geschichten. Aber trotzdem. Nachdem ich mich dann umentschieden hatte und doch zu Jocelyne zurueckfahren wollte, hielt sofort eine sehr sympathische Frau mit ihrem Wohnmobil an.
„Ich fahre an die heissen Quellen in den Bergen und Du?“
Ich erklaerte ihr wo ich hinwollte und gelangte so ohne Umschweife wieder zurueck. Wir gingen zusammen zum See, da sie von weit her angereist kam und eine Pause gebrauchen konnte und ich gab ihr eine Liste mit interessanten Plaetzen in der Region. Said kam nicht vorbei, da ich ihm ja quasi abgesagt hatte. Am naechsten Tag fuhr ich mit Jocelyne zum Markt in unserem frueheren Dorf. Wie gewoehnlich hielt ich die vielen Menschen jedoch nicht aus und wollte schon wieder zuruecktrampen, als ich einen englischen Bekannten wiedertraf. Wir setzten uns zusammen an das Ufer des Flusses an einen kleinen, aber feinen Strand.
„Letzte Nacht habe ich das Weisse Haus angeschrieben, sie sollen das Bespruehen mit Chemtrails endlich lassen.“
Er war wie immer in der Offensive. Und mutig.
„Ich habe die Steuern fuer mein Haus nicht bezahlt. Ich sehe nicht ein, dass ich Kriege mitfinanzieren soll. Ich habe ihnen die Unterlagen wieder zurueckgeschickt!“
Und als ich ihm das Malheur mit meinem Bus erzaehlte, den ich quasi verloren hatte, meinte er:
„Du kannst immer zu mir kommen. Ich habe jetzt ein wenig renoviert. Das Haus ist nicht mehr ganz so dunkel wie zuvor. Ich moechte ein Bed & Breakfast daraus machen.“
Als ich wieder zuruecktrampen wollte, traf ich einen meiner ersten Bekannten der Region: Michel. Er ging mit mir ueber den Flohmarkt im naechsten Dorf, der sich gerade zu Ende neigte und in ein Konzert muendete. Wir hoerten noch eine ganze Weile zu bevor er mich bis in die Naehe von Jocelyne brachte, denn ich wollte noch ein Stueck laufen und er seine Pferde fuettern. Er wohnte jetzt in einer Jurte in einem der Doerfer in der Gegend und hatte einen Wagen mit Vierradantrieb.
„Ich war gezwungen, mir einen Wagen mit Vierradantrieb anzuschaffen. Sonst komme ich nicht zu mir hoch. Wenn es geregnet hat, ausgeschlossen. Aber mit dem Auto geht’s.“
Als ich zu Jocelyne kam, war dort ein Mann zu Besuch, den sie vor einiger Zeit kennengelernt hatte.
„Said war heute hier. Drei Mal hat er vorbeigeschaut, aber du warst nicht da.“
„Ich habe Leute getroffen und war mit ihnen unterwegs. Wie schade. So habe ich ihn verpasst.“
Tatsaechlich kam er am naechsten Tag nochmal mit seinem Moped vorbeigefahren. Wir gingen zusammen zum See.
„Eigentlich war heute Frauenwochenende bei meiner Freundin. Das macht sie ab und zu, dass sie ihre Freundinnen einlaed und sie dann unter sich sind. Aber ich hatte es vergessen und war gekommen, weil einer der Nachbarn aus dem Dorf verstorben war. Am Morgen war die Beerdigung, bei der ich dabei war. Aber es war ein trauriges Ereignis, obwohl er alt war. Deshalb wollte ich auch am Samstag nicht mehr vorbeikommen. Und dass du gestern nicht da warst, war nicht weiter schlimm. Ich hatte eine schoene Zeit hier am See.“
Bei der nachfolgenden Unterhaltung meinte er:
„Ich bin wie ich lebe immer in einem Rahmen, aber der Rahmen gefaellt mir nicht mehr.“
„Es ist gar nicht so schlecht, in einem Rahmen zu leben. Schaue dir mich an: ich bin vollkommen aus dem Rahmen gefallen. Das ist auch nicht das Richtige.“
Zimmer zu vermieten
Bei meinem Weg durch die Innenstadt sah ich zwei Maenner neben ihren abgestellten Rucksaecken auf der Strasse stehen.
„Kommt Ihr aus Polen?“ sprach ich sie an.
„Ich bin halb Pole – halb Russe.“
„Und ich bin halb Amerikaner, halb Deutscher.“
Sie hatten sich am Meer kennengelernt und waren ueber die Berge hierher gelaufen. Der Pole hatte verschiedentlich in Frankreich gearbeitet, aber jetzt waere es schlecht mit Arbeit.
„Die Spanier und Portugiesen sind jetzt ueberall, wo es frueher Arbeit gab, weil es dort so schlecht geht. Dann kommen noch die Rumaenen dazu. Da ist gerade nichts zu machen. Dann habe ich mal in Belgien gearbeitet und dadurch meinen Anspruch auf Arbeitslosengeld ueber 2.200 Euro pro Monat verloren. Ich haette nicht ausser Landes gehen sollen, aber das wusste ich nicht. Man hat schon nach drei Jahren im Land das Recht auf das Minimum. Aber du musst immer an einem Ort bleiben. Alle zwei Wochen wird das ueberprueft.“
„Ich habe gehoert, man kann drei Monate wegbleiben.“
„Nein. Sie pruefen alle zwei Wochen, ob du wirklich da bist.“
Wir gingen dann zu einer der Hilfsorganisationen und sammelten unterwegs die uebrig gebliebenen Fruechte des Marktes auf, die wir anschliessend gemeinsam verzehrten: Honigmelonen, Orangen und Birnen. Die beiden gingen dann, weil es nicht gab, was sie brauchten (ein Paar neue Schuhe), waehrend ich in einem Pulk von Frauen auf die Oeffnung wartete. Ich fragte nach einem Schlafsack und bekam auch einen, den ich von drei Euro auf zwei Euro runterhandelte, denn sie duerften nichts mehr umsonst abgeben.
Frueher hatte ich hier in der Stadt immer tonnenweise Lebensmittel gedumpstert, aber das war nun vorbei. Die Muelltonnen der Supermaerkte waren fast alle verschwunden und ins Unterirdische verlagert worden. Es gab nur noch Behaelter zum Einwerfen. Das unter anderem auch, weil die Leute, die gedumpstert hatten, zu viel Dreck herumliegen liessen. Aber ich fand dann doch noch andernorts eine Menge an Lebensmitteln, vor allem Kekse und Joghurts, die ich mitnahm. Zum Glueck lief mir mein erster Gastgeber Claude ueber den Weg, der mir nicht nur beim Tragen der schweren Last half, sondern mich auch zum Abendessen und Uebernachten zu sich einlud. Nach dem Essen meinte er:
„Ich gehe dann mal Zigaretten suchen.“
In der Tat suchte er Zigarettenstummel.
„Ich habe kein Geld. Vielleicht kriege ich in ein paar Tagen etwas zurueck von jemandem, dem ich Geld geliehen habe, sonst habe ich nichts bis zum sechsten des naechsten Monats (das waren noch zwei Wochen). Mein Neffe hatte Geburtstag; da musste ich was schenken und nun habe ich nichts mehr.“
Ich schenkte ihm ein Paeckchen Tabak. Am naechsten Tag sah ich auf der Strasse eine aeltere Dame, deren Haaransatz regelrecht orange leuchtete. Wir sprachen uns gleichzeitig an. Sie war zwar Franzoesin, hatte aber vierzig Jahre lang in Brasilien gelebt. Und sie war achzig Jahre alt, obwohl sie aussah, wie fuenfundsechzig. Ich begleitete sie ein Stueck des Weges und ging auch wieder mit ihr zurueck, weil sie ihr Handy bei ihrer Freundin vergessen hatte.
„Ich vergesse immer etwas. Das ist das Alter, wissen Sie?“
Sie lud mich zu ihr in eine sehr schoene Sozialwohnung ein.
„Normalerweise lade ich niemanden ein, aber bei Ihnen mache ich mal eine Ausnahme.“
Sie empfahl mir dann, mir eine Sozialarbeiterin zu nehmen. Ich waere dumm, wenn ich das soziale Netz nicht nutzen wuerde.
„Mir hat gerade jemand erzaehlt, sie wuerden zwei mal im Monat kontrollieren, ob man auch da ist.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich wurde nie kontrolliert und ich bin manchmal fuer Monate im Ausland.“
„Vielleicht, weil Sie schon im Rentenalter sind.“
„Ich jedenfalls habe nie davon gehoert. Ich mag die Stadt hier zwar auch nicht, aber hier gibt es Wohnungen. Ich kam hierher, weil ich in Brasilien ueberfallen wurde. Ich lag sechs Monate im Bett und danach entschied ich, hierher zu ziehen, weil meine Schwester hier wohnt.“
Ich erinnerte mich dann an einen Mann, der mich einen Tag zuvor um fuenfzig Cent gebeten hatte.
„Ich habe einen Betreuer und nur zwanzig Euro pro Woche zur Verfuegung. Dann bekomme ich immer mal Fuenfzig Euro zum Einkaufen und das war’s dann. Ich lebe schon sechs Jahre so.“
Claude erzaehlte anschliessend:
„Ich hatte frueher auch kein Telefon. Aber meine Sozialarbeiterin hat mich gezwungen, mir eines anzuschaffen. Sie wollen die Kontrolle haben, wo man ist.“
Ich las immer noch fast taeglich die neuesten Channelings. Es war wiederholt vom Loslassen die Rede. Alte Dinge, die nicht mehr zu einem gehoeren solle man loslassen. Ich bezog es auf meinen Bus. Der Bus, um den sich fast taeglich meine Gedanken kreisten, aber fuer den ich keine Loesung fand. Also liess ich los. Irgendwie schaffte ich es eh nicht, ihn zurueckzuholen. Ich schrieb eine entsprechende Mail an den Mann, auf dessen Grundstueck der Bus stand, er moege die Papiere der Frau uebergeben, an den ich den Bus urspruenglich abgeben wollte.
Beim Spazierengehen las ich dann ploetzlich das Schild an einem Haus: „Zimmer zu vermieten“. Ohne zu zoegern klopfte ich an die Tuer. Eine Frau mit langen schwarz gefaerbten Haaren und ganz in schwarz gekleidet oeffnete mir die Tuer. Ich dachte im ersten Augenblick: „Das ist eine Hexe.“ Sie zeigte mir das Zimmer. Es war angenehm gross, die Einrichtung war nicht super, aber o.k., doch das Problem war die Durchgangsstrasse direkt nebenan. Wobei die Doppelglasfenster ganz schoen abdaemmten. Sie drueckte mir einen Zettel in die Hand, was es kostet und was es alles beinhaltet. Es war etwas teuer, aber dafuer alles inklusive. Sie spielte in einer Mittelaltertheatergruppe und es gab noch einen weiteren Mitbewohner, den ich aber nur kurz auf der Treppe sah, als ich mir den Garten anschaute. Vorher haette fuer fuenf Tage eine Frau dort gewohnt, aber sie hatte die Miete nicht gezahlt. „Ausserdem waren an einem Tag sieben Leute da und sie war dreckig. Ihnen leihe ich gerne auch Laken, weil Sie sauber sind. Die andere hatte dreckige Fingernaegel. Wir rauchen allerdings beide in der ganzen Wohnung, schauen aber dafuer kein Fernsehen und ich gehe erst um sechs Uhr morgens schlafen.“
Ich gedachte das Zimmer trotz aller Nachteile zu nehmen, gerade weil die Achtzigjaehrige gemeint hat, wir braeuchten ein Zuhause. Aber ich konnte vor Aufregung die halbe Nacht nicht schlafen. Ich ging dann am fruehen nachmittag mit meinen Sachen zu ihr. Wir wickelten die Formalitaeten ab und ich zahlte fuer elf Tage bis zu Beginn der eigentlichen Miete. Diesmal sah ich den Mitbewohner von nahem. Er war ebenfalls ganz in schwarz gekleidet und hatte auf seinem Ruecken ein grosses rosametallicfarbenes Kreuz: ein Gothic. Am Vortag hatte ich noch gedacht, er sei normal, aber die Praesenz zweier dunkler Wesen war fuer mich dann doch zu viel. Ich ging kurz zu Claude, um Ihm Bericht zu erstatten, da ich noch Sachen bei ihm gelassen hatte. Danach ging ich zurueck, um meine Sachen zu holen. Derweil arbeitete die Vermieterin mit zwei Klientinnen in ihrer Kostuemschneiderei. Ich machte in der Kueche ein wenig klar Schiff, weil der Mitbewohner den Zucker umgestossen und auf der Erde verteilt hatte. Beim Geschirrspuelen fand ich zwei Tassen mit Hexenfotos. Schliesslich ging ich zu ihr, als ich meinen Rucksack fertig gepackt hatte:
„Kann ich sie mal zwei Minuten sprechen?“
„Ja, klar.“
„Ich glaube, es ist doch nicht der Zeitpunkt, mich niederzulassen.“
Ich bekam anstandslos und vollkommen korrekt mein Geld zurueck, uebergab ihr den Schluessel und schon war ich weg, in Freiheit!
The road is the best scool
„Es hat sich alles geaendert“, informierte mich André auf der Stelle. „Ich kann mein Wohnmobil nicht mehr einfach auflassen und weggehen wie frueher. Ich wurde nun schon zwei Mal beklaut. Und ich rede auch mit niemandem mehr ausser mit den Leuten, die ich von frueher kenne.“
Ich uebernachtete bei ihm im Wohnmobil und trampte am naechsten Tag weiter, da er mir nicht so gerne mit meinem Bus helfen wollte. Am Abend nahm mich eine Frau mit, die ihren Freund besuchte, der auf einem Grundstueck in seinem Campingbus wohnte. Es war eine wunderschoene Gegend mit herrlichem Ausblick. Wir sassen im Freien und assen Sushi, das sie mitgebracht hatte. Zwei junge Leute mit Kleinkind wohnten in einem Haus in unmittelbarer Naehe.
„Zum Uebernachten kannst du waehlen zwischen Zelt und einem Bett im Haus“, lud mich ihr Freund ein.
„Dann nehme ich das Bett im Haus.“
Am naechsten Morgen empfing er mich mit:
„Du hast gut gewaehlt. Es hat heute nacht sogar gefroren.“
Ich erzaehlte ihm dann noch meine Geschichte mit dem Bus und er bot mir seine Hilfe an, allerdings erst in zehn Tagen.
„Du kannst gerne hierbleiben, wenn du willst. Ich fahre jedoch fuer eine Woche weg zu meiner Tochter.“
Ich wusste nicht recht, was tun und entschied mich kurzerhand, weiterzufahren. In der naechsten Stadt suchte ich den englischen Tom auf, aber seine Fensterlaeden waren geschlossen. Am Abend traf ich seinen Nachbarn, der nun nicht mehr in der Pizzeria, sondern in einem der beiden Cafés am Platz arbeitete. Ich fragte nach Tom.
„Der sitzt wohl im Knast. Die Polizei hat ihn abgeholt. Ich habe im Internet nach ihm recherchiert und zunaechst nichts gefunden. Erst als ich seinen Namen umgedreht habe, fand ich eine ganze Reihe von Informationen. Offenbar war er ein gesuchter Mann.“
Ein Mann, der mir am nachmittag schon sagte, ihm wuerde mein Outfit gefallen, lud mich zu sich sowohl zum Abendessen als auch zum Uebernachten ein. Claude erzaehlte mir, dass er jahrelang eine eigene Firma besass und schwer gearbeitet hatte. Aber dann war etwas in seinem Leben passiert, was er nicht verkraftet hat, so dass er alles aufgegeben hatte.
Am naechsten Tag wollte ich schon weiter, da gabelte mich beim Trampen ein mit Hut bekleideter, recht froehlich erscheinender Herr auf und lud mich zu einem Apero-Konzert gleich in der Naehe ein. Der Eintritt war auf Spendenbasis. Man konnte geben, was man wollte, musste jedoch irgendwas beisteuern, wenn auch nur ein paar Cent.
„Ich bin den Jakobsweg gegangen, erzaehlte er mir spontan. Von hier bis Santiago de Compostella. Das war im Jahre 2005.“
Nach dem Konzert lud er mich noch zu sich nach Hause ein.
„Ich wohne mit meinem Sohn zusammen, der aber gerade nicht da ist. Da hast du Platz. Mein Haus ist dein Haus. Ich arbeite in der Altenpflege. Ich betreue pflegebeduerftige Menschen in ihrer Wohnung.“
Wir unterhielten uns lange ueber alle moeglichen Themen.
„Ich bin Kabyle. Die Kabylei ist eine Region in Algerien. Die Araber haben uns so bezeichnet, weil wir den Koran ohne Gegenwehr angenommen haben.“
„Der Mensch ist die Summe seiner Entscheidungen“, war der interessanteste Satz, den er an diesem Abend sagte. Er trank den ganzen Abend an einer Flasche Rum, konnte dann allerdings scheinbar nicht sehr gut schlafen. Am naechsten Morgen setzte er mich naemlich nach einer Tasse dekoffeiniertem Kaffee vor die Tuer, um seinen Kater zu kurieren. Am Tag zuvor wollte er mit mir noch gross auf Touren gehen… Zwei Tage spaeter traf ich ihn im Supermarkt wieder. Ich wartete an der Kasse auf ihn.
„Ich muss von halb sechs bis halb neun arbeiten. Und was machst du heute abend noch?“
„Ich weiss nicht.“
„Ich gebe dir meinen Schluessel. Du kannst zu mir gehen. Ich komme dann spaeter.“
So ging ich zu ihm und duschte erst einmal. Dann kam ich allerdings auf die weniger gute Idee, sein Netbook zu nehmen, mit dem wir an dem Abend zusammen im Internet waren. Ich schaute nach dem Namen von Tom und fand tatsaechlich eine Zeitungsmeldung von September 2013. Demnach hat er in den achtziger Jahren Kinder sexuell missbraucht. 2007 ging dann eine Frau deswegen vor Gericht. Er hatte sich hier versteckt, aber als er einen Reisepass beantragen wollte, wurden die Behoerden auf ihn aufmerksam. Er wurde zu acht Jahren Gefaengnis verurteilt. Danach schaute ich noch nach anderen Sachen bis mein Gastgeber heimkam und ein Donnerwetter losbrach.
„Das ist privat. Mein privates Laptop. Das haettest du nicht nehmen duerfen. Wie kommst du ueberhaupt dazu, in mein Zimmer zu gehen und es zu nehmen?“
„‚Mein Haus ist dein Haus‘ hast du zu mir gesagt.“
„Ja, das gilt fuer Kueche und Badezimmer. Dass du Duschen kannst und dir einen Kaffee kochen oder etwas essen. Aber nicht fuer meinen privaten Bereich. Jetzt hast du Punkte verloren.“
„Aber letzt hast du mich doch auch das Netbook benutzen lassen.“
„Das ist etwas anderes. Da war ich dabei. Das haettest du echt nicht machen duerfen.“
„Entschuldige mich. Ich sah das nicht als etwas persoenliches und habe auch nicht auf die privaten Sachen geschaut. Ich war nur im Internet. Ich bin verwoehnt von den anderen Orten, an denen ich bin. Dort darf ich ueberall das Internet benutzen.“
Er beruhigte sich dann wieder und erzaehlte, dass er den Herrn, den er versorgte in die Psychiatrie hatte einweisen lassen.
„Es war notwendig. Wegen seiner Krankheit. Er ist sowieso kurz davor, in die Hoelle zu kommen mit dem Kopf, den er hat.“
Als ich am Morgen aufstand, begegnete ich ihm im Flur.
„Ich schlafe noch. Ich bin nicht vor sechs Uhr ins Bett gegangen. Und du gehst dann besser. Ich muss heute alleine sein.“
Ich ging dann zum Surfen in den Park, denn dort gab es Wifi vom Touristoffice.
„The road is the best scool“ fand ich als Spruch im Internet.
Ich traf dort spaeter einen Araber wieder, den ich schon kannte und mit dem ich ueber meinen Bus sprach.
„Ich wollte letzt ein Duplikat von Autopapieren fuer jemanden ausstellen lassen und sie wollten die technische Kontrolle, die nicht aelter, als sechs Monate ist, sehen.“
„Dann hat sich sowieso alles erledigt. Die technische Kontrolle ist ueber ein Jahr abgelaufen und ich habe auch kein Interesse, eine neue zu machen. Ich moechte eh nicht mehr mit dem Bus fahren.“
„Ja, sie sollen strenger geworden sein. Es ist nicht mehr so leicht wie frueher, durch die technische Kontrolle zukommen. Und wenn man ohne Kontrolle faehrt und wird erwischt, dann nehmen sie einem gleich das Fahrzeug weg und geben es einem erst wieder, wenn man damit zur Kontrolle faehrt.“
Abschliessend meinte er: „Du kannst gerne zu mir kommen zum Duschen oder auch zum Uebernachten, wenn du willst. Ich werde dich nicht draussen schlafen lassen. Ich gehe dann aber nach Hause. “
Er beschrieb mir, wo er wohnte.
„Ich habe keine Klingel, aber das Fenster ist offen. Rufe einfach.“
Ich ging kurze Zeit spaeter wirklich zu ihm und er machte auf. Wir unterhielten und ueber Gott und die Welt.
„Wer an Gott glaubt, kann sich kein Abbild machen, weder von ihm, noch von sonst etwas auf der Welt. Das ist ein Gebot. Viele religioese Gruppen machen das aber, auch die Mormonen,“ pflichtete er bei.
„In der Tat sind die Moslems fast die einzigen, die sich keine Abbilder machen,“ fuegte ich hinzu.
Als Markt war, sprach ich ausnahmsweise mal einen Verkaeufer an und fragte ihn, ob er Hilfe brauche.
„Nein, ich habe genug Zeit, um alles alleine aufzubauen.“
Es stellte sich heraus, dass er Nepalese war.
„Davon gibt es aber nicht viele hier in Frankreich. Du bist der erste, den ich treffe!“
„Ich habe auch noch keinen getroffen.“
„Und wie lange bist du schon hier?“
„Zehn Jahre. Ich bin hergekommen, um franzoesisch zu lernen und geblieben. Und jetzt verkaufe ich hier Sachen aus Nepal.“
„Ich war auch schon in Nepal. Vor vielen Jahren. Es ist mein Lieblingsland auf dieser Erde.“
„Dann wird es Zeit, dass du es wieder besuchst.“
„Ich habe den Annapurna-Trek gemacht.“
„Das ist auch mein liebster Treck, obwohl ich ihn nicht ganz gegangen bin. Nur Teile davon.“
Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile ueber dies und das, als auf einmal zwei Polizisten in Zivil auftauchten.
„Kontrolle.“
Sie zeigten beide ihren Ausweis.
„Arbeitet die Dame fuer Sie?“
Sie schauten zu mir.
„Hilft sie Ihnen beim Ausladen?“
„Nein. Wir haben uns nur unterhalten, weil er aus Nepal kommt, wo ich auch schon war.“
„Sie kommen aus Nepal?“
„Ja, ich komme aus Nepal.“
Sie liessen sich seine Papiere zeigen und der eine von beiden meinte zu mir gewandt:
„Sie haben doch geholfen, oder nicht?“
„Nein“, bestaetigte ich noch einmal, worauf er es bewenden liess. Trotzdem fragten sie:
„Und wo wohnen Sie?“
„Ich reise.“
„Da haben wir ja Glueck gehabt, dass du meine Hilfe nicht annehmen wolltest.“
„Kann man wohl sagen. Vor allem, dass wir auch keine Scherze gemacht haben, à la ‚Komm, du hast mir doch geholfen‘. Damit ist echt nicht zu Scherzen. Sie machen ihre Arbeit, aber ich mag sie trotzdem nicht.“
Spaeter ging ich zu einem anderen Stand mit indischen Klamotten, an dem ich den Verkaeufer kannte.
„Na, bist du nicht mehr in der Gemeinschaft? Haben sie Dich zu sehr gekidnappt?“
„Gekidnappt. Ja, genau das war’s.“
„Man kann einen auch mental kidnappen. So wie Sekten.“
Gehe! Go!
Am naechsten Morgen war Marina krank. Sie hatte riesige mit Wasser gefuellte Pusteln und ging gleich zum Arzt. Eine Freundin, mit der sie telefoniert hatte meinte, es seien Windpocken, aber der Arzt sagte, es sei eine Allergie gegen ein Medikament, das sie genommen hatte. Ich machte derweil die Wohnung sauber.
„Seit Monaten habe ich nichts mehr hier gemacht. Ich arbeitete die ganze Zeit nur im Geschaeft. Und dabei war ich davor sehr sauber und ordentlich. Da bin ich aber froh, dass es jetzt wieder sauber wird. Weisst du, vor zwei Jahren, da wollte ich eine Weltreise machen. Und dann kam ich hierher. Ich wollte meine Weltreise in Spanien beginnen. Jeder sagte mir, eine Weltreise beginnt man doch nicht in Spanien. Und dann kam ich hier in die Region, aus der ich urspruenglich stamme und bin geblieben.“
Am nachmittag ging ich mit dem Hund spazieren und landete im naechsten Dorf. Ich folgte einem Wanderweg und kam an einem Haus vorbei, an dem eine Flagge von England hing. Einen Stock hoeher sah ich einen Mann mit braunen Locken am Fenster stehen.
„Wanderst du?“ fragte er mich.
„Nein, ich gehe nur spazieren. Wollen Sie mitkommen?“
„Ja.“
„Dann kommen Sie runter.“
Zwei Minuten spaeter war er da. Er arbeitete in einem Verein, in dem sie Wanderwege markieren und pflegen. Er spielte mit dem Hund, der den ganzen Tag ueber unentwegt Stoeckchenwerfen spielen wollte und sich immer wieder mit einem Stock oder Stein vor einen legte. Fabrice kam urspruenglich aus dem Nachbardepartment.
„Hier muss man wie in Pantoffeln ankommen. Weisst du, was ich meine?“
„Ich kann es mir vorstellen. Leise.“
„Genau. Nicht als Eroberer.“
Das Ding war, dass ich vor Kurzem noch dachte, das waere vielleicht etwas fuer mich, Spazierwege instand zu halten. Er wuerde auch sonst alleine viel spazieren gehen.
„Aber ich uebernachte lieber abseits von Wegen im Zelt als in Herbergen.“
„In den letzten zwoelf Monaten verbrachte ich sieben Monate in einer Gemeinschaft. Ich wollte eigentlich Teil von ihnen werden. Aber in letzter Sekunde bin ich gegangen.“
„Ich bin absolut gegen jede Dogmatik und ich bin lieber frei.“
„So geht es mir auch.“
Irgendwie war er mir auf den ersten Blick symphatisch und ich vermisste ihn gleich, nachdem ich zu Marina zurueckgekehrt war. Am naechsten Tag schaute ich wieder bei ihm vorbei. Diesmal war eine Freundin bei ihm.
„Hallo. Ich wollte Euch fragen, ob Ihr mitkommt Spazierengehen?“
„Warum nicht?“ fragte Chantalle.
So gingen wir zu dritt durch den Wald den Berg hinauf.
„Das ist ja wie im tropischen Regenwald“, entfuhr es mir staunend.
„Ja, es ist echt wunderschoen. Was fuer eine gute Idee, spazieren zu gehen,“ meinte Chantalle. Fabrice spielte indessen Stoeckchenwerfen mit Funny. Er war phantastisch darin. Nicht nur, dass Funny hochsprang, um ans Stoeckchen zu kommen, er warf den Stock auch vier Mal so weit weg wie ich. Am Ende unseres gemeinsamen Spazierganges sagte er, ich koenne immer wieder kommen.
Die Tage war davon die Rede, dass wenn wir einen Fehler gemacht haben, wichtig sei, sich selbst zu verzeihen. Und: es kaeme nicht darauf an, wie oft wir gefallen sind, sondern darauf, wie oft wir wieder aufgestanden sind.
Es kam dann eine e-mail von der Person, bei der mein Bus stand, in der ich aufgefordert wurde, ihn sofort und ohne Verzoegerung abzuholen. Wenn ich nicht reagiere, waere der Bus weg. Ich wollte am liebsten gleich lostrampen, merkte aber, dass es nicht das richtige war. So sprach ich mit Marina darueber.
„Warte mal, vielleicht finde ich jemanden, der mit dir faehrt und dir hilft…“
So ging ich zu Maurice und fragte ihn, ob er mit mir zum Bus fahren koennte. Er machte gleich eine Rechnung, was alles kosten wuerde, wenn ich ihn wieder fit machen wollte: 500 Euro. Er haette erst in ein paar Tagen Zeit und wenn er mitkomme, dann muesste alles ein wenig vorausgeplant sein, was nicht gerade meine Lebensart ist.
In einem Channeling las ich, dass Dinge, die nicht mehr mit uns in Resonanz sind aufhoeren, Teil unseres Lebens zu sein. Weshalb wir nicht versuchen sollten, Dinge festzuhalten, die beendet sind, egal wie gut sie uns in unserer Vergangenheit dienten.
Marina schlief zeitweise bei ihrem Freund und ich war alleine mit Funny zuhause. Nach zehn Tagen sagte Marina ploetzlich am Morgen, als ich ins Geschaeft kam:
„Ich will nicht mehr, dass du mir hier im Geschaeft hilfst. Ich habe das Finanzamt angerufen und sie haben mir gesagt, dass du mir nicht helfen darfst. Nicht einmal Leute aus der eigenen Familie duerfen mir helfen, sogar mein Sohn streng genommen nicht. Aber da druecken sie noch ein Auge zu, weil er bei mir wohnt. Und die Leute sind sehr neidisch, weisst du. Wenn sie dich hier etwas tun sehen, koennten sie denken, ich beschaeftige dich schwarz. Oder wenn eine Kontrolle kommt, dann muesste ich eine hohe Strafe zahlen. Das will ich nicht.“
Als wir zum Mittagessen zu ihr fuhren, meinte sie:
„Meine Nachbarin hat Pferde. Sie kann dich auch beherbergen. Und sie hat ganz viel Arbeit. Vielleicht waere das was fuer dich.“
„Das ist bestimmt zu hart fuer mich. Ich wollte so etwas schon mal machen, habe es dann aber sein gelassen, weil es koerperlich zu anstrengend gewesen waere.“
„Heute morgen habe ich Maurice getroffen. Er soll in allen Supermaerkten geklaut haben. Und die Leute sagen, er habe eine Wohnung und Autos und sie fragten sich, warum er bettele, wenn er eine Wohnung hat.“
„Soweit ich weiss, hat er keine Wohnung, sondern wohnt in zwei kleinen Wohnwaegen auf dem Wagenplatz der Gemeinde. Und er dumpstert, um an Essen zu kommen.“
„Na, die Leute erzaehlen viel hier.“
„Ja, das hat man mir auch von Anfang an gesagt.“
Den naechsten Morgen wachte ich mit den Worten „Gehe! Go!“ auf. So packte ich meine Sachen. Als ich bei Marina am Geschaeft eine Nachricht hinterliess, kam sie gerade angefahren. Wir verabschiedeten uns und ich trampte los. Ich fuhr erstmal zu einem Wallfahrtsort auf dem Weg, um einen langjaehrigen Freund zu treffen. Und André stand mit seinem Wohnmobil auf dem selben Parkplatz wie letztes Jahr, als ich vorbeikam…
Kuenstlerische Suppen und Smoothies
Pablo blieb zwei Naechte und war dann auf einmal verschwunden.
“Er hat sich auf den Weg gemacht”, kommentierte Roman das Geschehen. Die Polizei hat ihm gestern und vorgestern gesagt, er duerfe nicht mehr vor der Kirche betteln. Das hat ihn sehr geaergert. Da ist er lieber gegangen.”
Mich hatte eine Frau zu sich eingeladen, die wir bei einem abendlichen Konzert kennengelernt hatten. Sie war sehr nett und hatte einen wunderschoenen beigefarbenen schweizer Rassehund. Sie wohnte in einem naheliegenden Dorf, bis zu dem ich am selben nachmittag gelaufen war. Noch in der Nacht erzaehlte ich ihr meine Geschichte mit der Gemeinschaft und sie mir umgekehrt aus ihrem Leben.
“Mein Freund ist gerade nicht da. Er ist am wwoofen auf einem Bauernhof in den Bergen, weil er gerade arbeitslos ist.”
Sie zeigte mir die Website des Hofes auf 1000 m Hoehe.
« Ich hatte frueher einen Rumaenen als Freund. Ich hatte ihn in Spanien kennengelernt. Er kam mit zu mir und wohnte bei mir. Bis er eines Tages mit meinem ‚Schatz‘ spurlos verschwand. Mein ‚Schatz‘, das war eine Sammlung alter Fuenf-Francs-Stuecke, die ich geerbt hatte.”
Sie hatte eine wunderschoene Wohnung, in der ich ausnehmend gut im Gaestezimmer schlief bis sie mich weckte, weil sie arbeiten musste.
“Ja, weil die Wohnung so schoen ist, nenne ich sie mein Schloss. Aber du kannst dir nicht vorstellen wie ich vorher gewohnt habe. Das krasse Gegenteil. Ich hatte eine vollkommen runtergkommene Wohnung mit vom Schimmel geschwaerzten Waenden. Ausserdem hoerte der Sohn der Vermieterin am Wochenende immer so laut Musik, dass ich mich nicht erholen konnte. Mein Freund hat dann hier die Wohung gefunden. Und hier wohnen wir gerade mal seit zwei Monaten. Ich arbeite in einem Restaurant als Bedienung, habe aber noch keinen Arbeitsvertrag. Und bezahlt haben sie mich auch noch nicht ganz.”
Wegen der negativen Erfahrung mit dem Rumaenen wollte sie mich nicht alleine in ihrer Wohnung lassen und so ging ich wieder zu Roman. Beim Umherstreifen sah ich eine Deutsche Mitte zwanzig mit Sack und Pack etwas abseits der Hauptstrasse sitzen.
“Ich bin krank und warte schon seit Stunden darauf, dass mich der Bauer abholt, bei dem ich vorher gewwooft habe, weil ich so nicht weiterreisen kann.”
So lud ich sie kurzerhand ein, bei Roman zu uebernachten, denn er hatte mir erlaubt, weibliche Wesen einzuladen, die nicht wuessten, wo sie schlafen sollten. An diesem Abend kamen allerdings Romans Tochter mit ihrem Freund und andere Freunde zu Besuch und die Deutsche und ich wir waren die einzigen Nichtraucher unter fuenf Rauchern. Wir assen lecker, wie immer, denn Roman war seinen Erzaehlungen nach ein echter Koch.
Sie tranken auch alle eine ganze Menge, was am naechsten Tag schon um die Mittagszeit weiterging, so dass die ganze Meute schon am fruehen nachmittag betrunken war. Aufgrund des schoenen Wetters nach vielen Tagen taeglichen Regens, machte ich mich auf zu einer Wanderung und nahm all meine Sachen mit, obwohl ich am Ende doch wieder zuruecktrampte, weil ich nicht wusste, wo ich uebernachten sollte.
Diesmal nahm ich jedoch einen anderen Weg, an dem ich einen Bioladen gesehen hatte. Es sassen zwei Gestalten auf einer Bank draussen im Freien und ich naeherte mich dem Ganzen. Ich hatte ein Schild mit dem Wort ‘Kunst’ gesehen und wollte der Sache nachgehen. Es sass dort der Heavy Metal Musiker ueber sechzig, mit dem ich mich am Vortag schon kurz unterhalten hatte. Er erkannte mich jedoch nicht wieder.
“Ich habe gestern mit so vielen Leuten geredet…”
Eine Frau mit langen braunen Haaren nahm sich meiner an. Sie zeigte mir die Raeumlichkeiten mit Galerie, Kunstatelier, Veranstaltungsraum fuer Konzerte und Restaurant fuer kuenstlerische Suppen und Smoothies.
“Die Terrasse ist gerade fertig geworden. Mein Freund hat mir die Tische und Baenke aus Paletten gefertigt.”
Spaeter kam noch ein Yogalehrer vorbei.
“Es gibt keinen Alkohol hier. Ich hatte keine Lust, mit Leuten umzugehen, die zu viel getrunken haben. Ich habe vor zwei Monaten aufgemacht, bin aber immer noch nicht ganz fertig. Den Veranstaltungsraum habe ich erst jetzt dieser Tage fertig gemacht.”
Als die beiden Maenner weg waren, lud sie mich zu einer Suppe und einem leckeren Bananensmoothie ein.
„Ich gebe auch Malkurse hier.“ Sie zuendete sich nach dem Essen eine Zigarette an.
„Eigentlich waere es Zeit aufzuhoeren mit dem Rauchen.“
„Es ist wichtig, dass man einen Ersatz hat. Ich habe einmal aufgehoert mit Hilfe eines Buches. Das waere vielleicht was fuer dich. Es heisst ‚Der Weg des Kuenstlers‚ von Julia Cameron. Ich habe damit nicht nur aufgehoert zu rauchen und zu trinken, sondern auch viele andere Dinge hinter mir gelassen. Es ist ein spiritueller Weg und ich wusste, ich wuerde alles tun, um ihn zu gehen.“
Sie schaute auf ihrem Handy nach dem franzoesischen Titel des Buches im Internet. Als ich danach gehen wollte, fragte sie mich:
“Und, wo schlaefst du heute?”
“Weiss ich auch nicht. Da wo ich bisher geschlafen habe, waren sie schon heute nachmittag betrunken.”
“Dann kommst du mit zu mir!”
« O.k. »
Ich durfte im Zimmer ihres Sohnes Schlafen, der gerade nicht da war. Am naechsten Morgen erzaehlte ich ihr die Geschichte mit meinem Bus, den ich halb abgegeben hatte.
“Wenn du willst, koennen wir ein Tauschgeschaeft machen. Du hilfst mir – Arbeit habe ich genug, hier zuhause und im Geschaeft – und dafuer kannst du bei mir essen und schlafen.”
“Ja super.”
Paranoia
Das Paerchen, das aus einem Amerikaner und einer Italienerin, beide Anfang zwanzig bestand, blieb noch den ganzen naechsten Tag hier und schlief noch eine weitere Nacht bei Roman. Sie hatte solch ein phantastisch schoenes Lachen, dass einem das Herz aufging. Sie kamen zu Fuss aus Lissabonn und wollten bis nach Italien laufen. Und zwischendurch vielleicht etwas Geld bei der Ernte verdienen. Dann zogen sie weiter und ich ueberlegte schon, ein Stueck mit ihnen mitzugehen, aber sie waren viel zu fit und zu schnell fuer mich nach ihrem monatelangem Training.
Ich lernte dann einen Menschen mit langen braunen Haaren und unbeschnittenem Bart kennen, der mich auf der Strasse vor einer Kleiderkammer angesprochen hatte, die gerade geschlossen war.
“Du kannst trotzdem fragen, ob sie dich nicht schauen lassen, wenn Leute gerade dort arbeiten. Du sagst, du waerest nur voruebergehend hier.”
“Es ist nicht fuer mich, sondern fuer einen Freund, der gar nichts hat. Das kann auch noch zwei Tage warten.”
Wir unterhielten uns Stunden.
“Ich wohne in einem Wohnwagen auf einer Art Campingplatz, einem Grundstueck von der Gemeinde wo Leute leben koennen, die keine Wohnung haben. Ich habe einen Wohnwagen in der Naehe gesehen, den sie fuer hundertfuenzig Euro verkaufen wuerden. Er muesste bloss restauriert werden. Wenn du willst, kann ich ihn dir zeigen. Morgen vielleicht. Und du koenntest dann da wohnen, wo ich auch lebe. Ich habe zur Zeit zwei kleine Wohnwagen. Dann sind noch vier andere Leute da, aber die gehen bald weg, sobald sie eine Wohnung haben.”
“Das waere unter Umstaenden schon interessant fuer mich, da ich gerade gar nichts habe.”
“Dann komm einfach morgen frueh bei mir vorbei.”
Er haette auch schon vor der Kirche gesessen und gebettelt.
“Ich hatte einen Arbeitsunfall. Ich bin Zimmermann. Und vom einen auf den anderen Tag habe ich alles verloren: meine Arbeit und meine Wohnung. Noch dazu war ich im Rollstuhl. Und die Leute haben mich ganz schoen beschimpft. Ich hoerte Worte wie Nichtsnutz, Taugenitz und andere unschoene Worte.”
Pablo kam vorbei und beschwerte sich wieder ueber Philipp, der zurueckgekehrt war:
“Er kam zur Kirche und sagte: ‘Gib mir Geld!’ Ich sagte: ‘Geld? Nein!’ Er hatte mir damals ganz am Anfang angeboten, bei ihm zu bleiben und wir wuerden dann das Geld, das er einnimmt, teilen. Aber nichts hat er getan. Im Gegensatz zu ihm habe ich ihm das Geld gegeben, das ich eingenommen hatte und es mit ihm geteilt.”
Er war total aufgebracht und sichtlich verstoert. Seine gesamten Gesichtszuege waren angst- und wutverzerrt. Von Minute zu Minute, die er bei uns stand, sah er jedoch besser aus. Er ging dann wieder und ich unterhielt mich weiter mit meinem neuen Bekannten. Interessant war seine Feststellung:
“Frueher fingen die Baecker ganz normal morgens an zu arbeiten und dann war das Brot um drei, vier Uhr nachmittags fertig. Das ging auch. Nachts zu backen hat sich erst spaeter so entwickelt.”
Spaeter hatten wir es mit Gott und dem Begriff Elohim. Er war naemlich Jude und kannte sich aus.
“Elohim ist nicht nur maennlich, sondern maennlich und weiblich in einem.”
Er beschrieb mir den Weg zu seinem Campingplatz und am naechsten Morgen ging ich tatsaechlich zu ihm. Wir liefen zusammen zu dem etwa vier Kilometer entfernten Wohnwagen, aber er war zu alt und runtergekommen fuer meinen Geschmack.
“Das dauert zu lange, ihn so herzurichten, dass ich mich darin wohlfuehlen wuerde. Ich glaube, das lasse ich lieber.”
Danach traf ich Roman und eine Bekannte auf der Terrasse eines Cafes. Sie luden mich zu einem Kaffee ein. Ich erzaehlte von meiner Tour mit Maurice. Sie kannten ihn beide.
« Maurice mag ich nicht », meinte Roman. Seine Bekannte schob hinterher :
« Er mischt sich zu sehr in dein Leben ein, weisst du. Er ist sehr sympathisch, aber sobald er mehr ueber dich weiss, bohrt er in deinem Leben herum und zerstoert alles. »
Daraufhin wollte ich natuerlich erstmal gar nicht mehr zu Maurice gehen. Dafuer lud ich Roman ein, mit mir spazieren zu gehen.
“Ich gehe jeden Tag zwei Stunden spazieren”, liess ich ihn wissen.
Er zeigte mir eine ganz schoene Ecke im Gruenen, die ich bisher noch nicht kannte. Wir unterhielten uns sehr gut. Er erzaehlte viel von seinen Pilgerreisen.
« Wir haben eine spirituelle Suche zu leisten und du hast noch nicht gefunden, was du gesucht hast. Gemeinschaft ist nicht das Richtige. Ich war auch manchmal in Gemeinschaften, aber auf Dauer hat das nicht funktioniert.»
Er machte mir auf jeden Fall Mut, weiterzugehen.
“Jetzt bist du hier, um dich ein wenig auszuruhen und wieder zu dir zu kommen. Aber wichtig ist, in Bewegung zu bleiben. Irgendwann gehst du weiter auf deinem Weg.”
Am naechsten Morgen kam Pablo zu uns und erzaehlte freudig, dass ihm jemand 120 Euro gegeben hatte. Er wollte in das spanische Dorf in der Naehe, um genau 120 Euro von der Bank abzuholen, die seine Familie ihm geschickt hatte. Da er kaum Franzoesisch sprach, kam ich mit. Doch obwohl er 20 Euro in ein Taxi investiert hatte (!), um moeglichst schnell bei der Bank zu sein, war das Geld weg.
“Sie haben es konfisziert. Denn ich habe Schulden wegen einer Geldstrafe. Weil ich jemandem einen Joint gegeben habe, habe ich 300.000 Euro Schulden.”
„Mir war schon vorher klar, dass das Geld weg ist. Dir hat ja jemand anderes heute morgen genau die Summe gegeben, die du bekommen haettest. Bedanke dich bei Gott und freue dich.“
Ich konnte das alles jedoch nicht so recht glauben. Vielleicht hatte ich ihn auch falsch verstanden, da mein spanisch nur rudimentaer ist. Danach erzaehlte er weiter:
“Als ich neunzehn Jahre alt war, war ich mit einem Jungen zusammen, der fuenfzehn Jahre alt war. Das war Verfuehrung Minderjaehriger. Ich war deswegen sechs Jahre im Gefaengnis.”
Wir setzten uns in eine Bar und Pablo verschwand immer wieder mal fuer eine Weile, um mit dem einen oder anderen zu reden. Ein junges Paerchen mit Campingbus setzte sich an unseren Nebentisch. Wir gesellten uns zu ihnen. Er war Spanier und sie Franzoesin. Sie wollten in ihre Heimat fahren.
Der Spanier, bei dem ich letzt uebernachtet hatte, kam mit seinen Eltern vorbei und lud uns alle zu sich ein. Er meinte spaeter zu mir, ich koenne gerne wiederkommen, aber ohne Pablo.
“Auch das Paerchen moechte ausser ihn mit dem Auto mitzunehmen, nichts weiter mit ihm zu tun haben. Pablo ist zu nervoes und zu verrueckt. Aber das sage ich dir, unter uns.”
Ich trampte dann zurueck, weil das Paerchen nur drei Sitze hatte.
Am Abend lud Roman Pablo nicht nur zum Abendessen ein wie die letzten beiden Abende, sondern auch zum uebernachten. Denn die Frau, die Pablo ihren Transporter fuer zwei Naechte zur Verfuegung gestellt hatte, war die letzte Nacht nicht erschienen, um das Auto zu oeffnen.
“Sie war Essen gegangen und hatte mich vergessen. So habe ich vor der Kirche uebernachtet.”
Bei dem Gedanken wurde mir mulmig. Ich hatte nicht genug Vertrauen zu Pablo, um mit ihm in einem Zimmer zu uebernachten. Vor allem, nachdem, was er fuer einen Eindruck bei seinen Landsleuten hinterlassen hatte. Roman bot mir an, bei ihm im Zimmer zu uebernachten. Das war schon besser. Doch auch da ueberkam mich auf einmal Angst. Ich wollte meine Sachen packen und gehen, obwohl es schon gegen elf Uhr war. Roman brachte es auf den Punkt:
“Jetzt fluechtest du vor dir selbst und vor dem Leben, das du gewaehlt hast. Wir haben immer die Wahl. Entweder wir waehlen das Gute oder das Schlechte. Und wenn du jetzt gehst, dann kommst du nicht mehr zurueck. Du hast Paranoia.”
“Ja, ich habe Paranoia, wenn ich mit zwei Maennern in einer Wohnung schlafe und ich zumindest zu einem nicht wirklich Vertrauen habe.”
“Dann hast du auch zu mir kein Vertrauen, wenn du jetzt gehen willst.”
Er hatte recht. So blieb ich. Er hatte mich beruhigt. Und ich schlief auch einigermassen gut in seinem Zimmer – bis auf die Tatsache, dass seine Bettfedern sehr laut quietschten…
Die andere Seite des Lebens
Nach ein paar Tagen lief ich ein Stueck und trampte dann weiter in Richtung Berge. Ein Comiczeichner nahm mich mit, der mich zu sich zum Uebernachten einlud. Er erzaehlte mir beim Abendessen:
„Ich arbeite nachts und esse nur einmal am Tag und zwar abends“.
Ich hatte den Eindruck, das waere eine Botschaft fuer mich, es ihm gleich zu tun und so ass ich fortan wie die Moslems an Ramadan ebenfalls nur noch abends. Am naechsten Tag fuhr er mich dahin wo ich urspruenglich hintrampten wollte. Vor der Kirche hatten sich drei Menschen ohne Zuhause versammelt. Einen davon kannte ich schon von vor einer Woche, als ich hier vorbeigekommen war. Er hiess Philipp. Dann war da noch ein junger Zeitgenosse, der einen autarken Platz in den Bergen aufbauen wollte.
„Ich habe allerdings nur die Koordinaten vom GPS, aber selbst kein GPS. Also weiss ich nicht, wo es ist. Ich muss erstmal eine e-mail abwarten. “
Der Dritte im Bunde war ein Spanier, der vor ein paar Tagen angekommen war. Philipp wollte erstmal einen Sandwich essen gehen und wir gingen alle mit. Derweil stiess Roman zu uns, ein wirklich magerer Franzose ueber sechzig, den ich vorher schon gesehen hatte. Von ihm erfuhr ich spaeter, dass er fast alle Jakobswege kannte, weil er sie schon gegangen war. Vor Kurzem war er von seinem Pilgerweg aus Rom zurueckgekehrt.
Am naechsten Tag lief ich ein Stueck bis ueber die spanische Grenze. Dort sprach mich auf der Strasse ein Mann an: „Ich habe dich letzt woanders schonmal gesehen.“
„Das kann sein. Ich bin heute erst hierher gekommen.“
Ein Freund von ihm kam hinzu und lud mich ein, mit zu ihm zu kommen.
„Wenn du willst, kannst du auch hier uebernachten,“ lud er mich ein.
„Ja gerne, danke.“
Juan, der mich angesprochen hatte, fragte, ob ich Kinder habe. Ich verneinte.
„Und du?“
„Ich habe eine Tochter. Zusammen mit einer Marokkanerin, mit der ich nur ganz kurz zusammen war. Meine Tochter wurde mir letztes Jahr von den Behoerden weggenommen, weil sie ein paar Mal zu spaet zur Schule gekommen war. Heutzutage reicht es, wenn das Kind muede ist oder zu spaet kommt, dass es den Eltern weggenommen wird. Es reicht auch nur ein Anruf von irgendjemandem, der dich wegen irgendetwas denunziert. Sofort wird den Leuten dann das Kind oder gleich mehrere Kinder weggenommen. In Frankreich sind es 70.000 Kinder pro Jahr.“
„In Deutschland sind es 40.000 Kinder, die pro Jahr den Eltern weggenommen werden. Sie werden dann in Heime oder zu Pflegefamilien gesteckt.“
„Meine Tochter war bei vier Pflegefamilien innerhalb kuerzester Zeit, aber da sie so verstoert war, dass sie von ihrer Mutter wegmusste, kam sie danach in ein Heim, was noch schlimmer ist. Jetzt habe ich staendig irgendwelche Gerichtstermine und komme kaum weiter. Ich will sie schon die ganze Zeit zu mir holen , das wollte ich von Anfang an, aber irgendetwas kommt immer dazwischen. Mal hatte ich keine Wohnung in der Naehe ihrer Schule und ich wollte sie nicht drei Wochen vor Unterrichtsende herausreissen, was die Behoerden dann allerdings ihrerseits gemacht haben. Das ist ein richtiges System, an dem viele Leute verdienen: Rechtsanwaelte, Richter, Sozialarbeiter, Heime, Pflegefamilien… “
Ich erzaehlte seinem Freund die ganze Geschichte, was zuletzt in meinem Leben passiert war. Er war ein sehr guter Zuhoerer. Am naechsten Morgen fuhr er mit mir zu einer Gemeinschaft in der Naehe, die sich in einem verlassenen Bergdorf angesiedelt hatte. Es war sauber und nett, aber sie nahmen gerade keine Gaeste auf, erst wieder im September. Auf der Fahrt meinte er:
„Es gibt Leute, die besser nichts sagen. Denn wenn sie zum Beispiel ueber jemanden schimpfen, weil er dies oder jenes falsch macht, wie zum Beispiel Muell in die Umwelt werfen, dann tun sie eine halbe Stunde spaeter dasselbe.“
Am nachmittag trampte ich wieder zurueck. Als ich ankam, luden mich die Jungs ohne Zuhause ein, mit ihnen auf dem Campingplatz zu Abend zu essen, denn sie uebernachteten dort. Und Roman, bei dem wir vorbeikamen, als er gerade aus dem Fenster schaute, lud mich ein, bei ihm zu uebernachten. Er kam auch mit zum Campingplatz, obwohl er gewisse Bedenken hatte. Wir hoerten sie schon von Weitem reden, als wir ankamen. Es waren noch drei weitere junge Maenner bei ihnen, die sich auch gerade etwas zu essen machten. Zwei waren aus Deutschland und einer aus Neuseeland. Letzterer radelte durch Frankreich.
„Hier seht Ihr die andere Seite des Lebens,“ sagte ich zu den Deutschen mit Blick auf die angetrunkenen Jungs.
Es dauerte nicht sehr lange und wir hatten auch noch nichts gegessen, da kamen die Gendarmen, weil sich wohl andere Leute auf dem Campingplatz durch den Laerm belaestigt fuehlten. Sie waren allerdings sehr nett und Roman und ich verschwanden irgendwann waehrend die Gendarmen jeden fragten, was er hier mache.
Am naechsten Tag war Philipp sauer auf mich, weil ich mich am Vorabend, als die Polizei da war, nicht von ihm verabschiedet hatte. Er wurde regelrecht verletzend, als ich den Fehler machte, darauf einzugehen.
Spaeter kam Pablo, der Spanier zu uns in die Wohnung. Er war drei bis vier Tage mit den anderen zusammen gewesen und klagte uns nun sein Leid:
„Philipp hat letzte Nacht alleine mit seinem Hund in dem Zelt geschlafen, das du uns gegeben hast. Und wir beide schliefen in der Dusche. Und von dem Geld, das Philipp taeglich erbettelt, sah ich keinen Cent.“
Er kehrte das Innere seiner Hosentaschen nach aussen, um zu zeigen, dass er wirklich keinen Cent bei sich hatte.
„Und er trinkt nur und isst nichts. Und Waschen tut er sich auch nicht. Und ich selbst war noch nie in solch einem Zustand: ungewaschen und unrasiert. “
„Er hat auch in allen Supermaerkten Hausverbot, weil er dort geklaut hat,“ warf Roman ein. „Er hat eine Woche bei mir gewohnt, aber dann habe ich ihn rausgeschmissen, weil er das Essen nicht essen wollte, das ich fuer uns gekocht habe mit den Lebensmitteln, die er gebracht hat.“
Er reichte Pablo eine kleine Plastikschuessel.
„Hier, nimm das. Damit setzt du dich vor einen Supermarkt, aber du sprichst die Leute nicht an, wie du das bisher gemacht hast. Du bist ganz ruhig und sagst ‚guten Tag‘, wenn du sie siehst und ‚danke‘, wenn sie dir etwas gegeben haben.“
Roman gab ihm auch eine Jacke, weil es kalt war.
„Jetzt hast du keine Jacke mehr, oder?“ fragte ich ihn.
„Ich brauche keine Jacke.“
Pablo und ich schauten kurz in die Bibliothek, die allerdings sehr klein war und stellten uns dann vor dem Regen unter. Es kam ein nett aussehendes junges Paar vorbei. Sie stellten sich nur kurz unter und gingen dann weiter. Ich traf sie wenig spaeter im Touristoffice wieder und fragte sie, ob sie wuessten, wo sie schlafen.
„Nein, und wir haben auch nur ganz wenig Geld.“
„Ich moechte gerne, dass Ihr Roman kennenlernt, bei dem ich gerade uebernachte. Vielleicht koennt Ihr dort auch uebernachten, mal sehen. Habt Ihr Lust, mitzukommen?“
„Ja, wir kommen mit.“
Auf der Strasse trafen wir eine Frau mit langen blondgefaerbten Haaren, die mich ansprach :
„Bist du Michelle?“
„Ja, die bin ich.“
„Philipp hat mir von dir erzaehlt und mir beschrieben wie du aussiehst. Und jetzt bin ich hier, um ihn zu sehen. Ich wollte ihn ueberraschen.“
„Philipp ist scheinbar gestern weggegangen. Die Polizei hat ihn wohl verjagt.“
„Und du weisst nicht, wohin er gegangen ist?“
„Nein. Nur Pablo weiss bescheid.“
„Mit ihm habe ich vorhin schon gesprochen. Er weiss auch nicht viel mehr.“
„Hast du ihn schon angerufen?“
„Ja, aber er nimmt nicht ab. Entweder ist sein Akku leer oder er schlaeft. Ich wohne in den Bergen etwa eineinhalb Stunden entfernt von hier. Ich lebe in einer Schaeferei und habe im Winter die Menschen ohne Zuhause zu mir eingeladen. Da war Philipp auch dabei. Aber ich kenne seine Probleme mit dem Alkohol und dass er dann oft aggressiv wird. Andere Leute haben ihm mehrmals alle seine Sachen in den Fluss geworfen und er musste immer wieder von vorne anfangen. Er ist – wie sagt man? – schizophren.“
Wir gingen Richtung Roman und trafen einen Freund von ihm, der uns alle in seinen Squat einlud. Wir gingen in den obersten Stock. Es roch nach Gas.
„Oh, ich habe den Herd vergessen, auszumachen. “
Er zeigte dem Paerchen wo sie uebernachten koennten. Es gab ein grosses Bett. Wir gingen zusammen einkaufen und ich bat Roman, der aus seinem Fenster schaute, runterzukommen.
„Ich moechte dir ein paar Leute vorstellen.“
Er kam mit in den Squat und es dauerte nicht lange, da lud er die Beiden ein, bei ihm zu uebernachten.
„Bei mir gibt es eine Heizung, hier ist es kalt. Ausserdem koennt Ihr bei mir baden und wir koennen zusammen etwas kochen…“
Sie kamen gleich mit und wir hatten eine schoene Zeit.
Vagabund bleibt Vagabund
Sieben von den letzten zwoelf Monaten war ich in einer Gemeinschaft gewesen und genau seit dem Zeitpunkt, an dem ich den Entschluss gefasst hatte, mich der Gemeinschaft anzuschliessen und alles andere hinter mir zu lassen, ging ploetzlich alles schief. Ich war mehrmals zu meinem Bus getrampt und hatte Sachen aussortiert, die ich im Falle, dass es irgendwie nicht klappt mit der Gemeinschaft behalten wollte. Den Bus selbst gab ich an eine Portugiesin mit einem kleinen Kind ab, die mit ihrer Schwester und zwei Spaniern in dem besetzten Haus lebte, an dem ich meinen Bus abgestellt hatte. Doch in dem Moment, in dem ich alle Papiere fertig gemacht hatte, um ihn ihr zu ueberschreiben, ueberkam mich ein furchtbares Gefuehl. Richtig horrormaessig. Ich fuehlte mich wie in einem schwarzen Loch. Ich konnte die Nacht auch kaum schlafen. Ich wachte um drei Uhr auf ohne wieder einzuschlafen. Die folgenden Naechte waren nicht viel besser, obwohl ich in die Gemeinschaft zurueckgekehrt war.
Dort erwartete mich ein Haertetest. Obwohl ich absolut nicht nach Deutschland wollte, sollte ich dorthin zurueck. Da ich ja uspruenglich in der Gemeinschaft bleiben wollte, fuhr ich mit. Ich haette dort bleiben sollen, wenn es der Gemeinschaft nach gegangen waere, wollte aber nicht. Es war ein riesengrosser Konflikt. Ich schwankte hin und her. Am Ende fuhr ich mit dem Gemeinschaftsmitglied, mit dem ich nach Deutschland gefahren war wieder nach Frankreich zurueck, obwohl ich wusste, ich wuerde dort nicht mehr in die Gemeinschaft gehen duerfen. Das Ganze gipfelte darin, dass ich danach erfuhr, dass ich nun die Gemeinschaft auf der ganzen Welt fuer mindestens ein Jahr lang nicht mehr besuchen darf. Und somit befand ich mich in einer Situation aehnlich der, als ich diesen Blog begonnen habe.
Und das Leben geht weiter. An einer Kathedrale, an der ich gerade vorbeispazierte sprach mich ein junger Typ namens Richard an: „Willst du deinen Rucksack bei mir abstellen? Ich reise auch oft und da freue ich mich, wenn ich meinen Rucksack irgendwo abstellen kann. Oft gehe ich in ein Restaurant und sage, ich wuerde spaeter dort essen und darf dann meinen Rucksack dort abstellen.“
„Das ist eine gute Idee. Wenn du willst, kannst du mir ja zeigen wo es ist und wenn ich es auch nicht gleich nutze, weil ich nicht weiss, was ich jetzt mache, nutze ich es vielleicht gerne morgen, wenn ich noch da bleibe“.
Er fuehrte mich um eine Ecke zu seiner Wohnung unterm Dach.
„Die Tuer unten ist meist offen und wenn nicht, kannst du klingeln. Und hier vor der Wohnung kannst du deinen Rucksack abstellen. Da kommt keiner hin. Ich muss gleich weg zum Sport.“
Ich lief durch die oesterlichen, von Touristen ueberfluteten Strassen bis mich ein aelterer Herr ansprach: „Peace and Love! Wie schoen, dass ich so etwas sehe. Was haette sich meine Frau gefreut.“
„Wieso haette?“
„Weil sie gestorben ist. Das Leben, wissen Sie. Aber Sie, Sie sind ein richtiger Hippie! Wie schoen.“ Er fasste sich an sein Herz.
„Ich weiss nicht, ob ich ein richtiger Hippie bin, aber ich bin eine, die immer wieder alles aufgibt.“
„Ja, das ist es. Das haette ich nie getan.“
„Wir sind eben so. Wenn wir keine Lust mehr auf irgendetwas haben, verlassen wir es und fangen woanders wieder an.“
„Aber das ist gar nicht so einfach. Peace and Love! Was war das fuer eine Zeit!“
„Da war noch Hoffnung.“
„Ja, jetzt gibt es keine Hoffnung mehr. Und wo schlafen Sie?“
„Keine Ahnung. Ich war gerade dabei, nach einem Schlafplatz Ausschau zu halten.“
„Ich habe leider eine ganz kleine Wohnung zwanzig Kilometer entfernt und gehe jetzt zu meinen Kindern, sonst haette ich sie eingeladen. Und wo essen Sie?“
„Ich hatte nicht vor, heute noch etwas zu essen.“
„Ach so.“
Er ging dann und ich lief zu Richard zurueck. Ich klingelte, aber niemand oeffnete, obwohl Licht brannte. Irgendwann kam ein anderer junger Mann vorbei.
„Willst du auch zu Richard?“ fragte er.
„Ja, aber er macht nicht auf.“
In dem Moment schaute jemand aus dem Fenster und wir wurden hereingelassen. Und er lud mich dann auch ein, bei ihm zu uebernachten, denn Richard hatte schon zwei Gaeste. Wir gingen in die Wohnung meines Gastgebers.
„Hier sind Linsen und Bohnen, die ich gekocht habe. Die kannst du dir hier auf dem Herd warm machen. Und du kannst dir sonst noch nehmen, was du willst. Und hier ist Internet, das Laptop kannst du benutzen.“
Wunderbar, ich hatte alles, was ich brauchte. Sie gingen dann alle aufs Stadtfest, waehrend ich tonnenweise Geschirr spuelte. Zum Teil uralt, total eklig und verschimmelt. Aber dafuer hatte ich eine ganze Wohnung fuer mich die naechsten Tage, denn mein Gastgeber fuhr kurzerhand weg und sein Mitbewohner kam erst ein paar Tage spaeter wieder und das auch nur fuer ein paar Minuten.
Vor einem Geschaeft sah ich als Reklame ein grosses Foto von einem Typen mit einem blauen Auge und einem strahlenden Laecheln, so als waere er gerade noch davongekommen. So wie ich.